YOLANDA
GINZKEY
( * 1931 )
Um
seine eigene Geschichte verkraften zu können,
fügt wohl ein jeder etwas Legende hinzu.
von Yolanda
Schmidt-Ginzkey
Ehe ich die
Erinnerungen einer reifen Frau und Mutter an zwei sehr
einschneidende Jahre ihrer Kindheit wiedergebe, möchte ich
für die "jüngeren" Leser/innen, die Maffersdorf
nicht mehr oder nur verschwommen noch erlebt haben, einige
Sätze vorausschicken.
Heinz Ginzkey,
der Vater Yolandas, war der zweitälteste Sohn Alfred Ginzkeys
und Enkel des Firmengründers Ignaz Ginzkey. Als er noch in
Maffersdorf zur Volksschule ging, starb sein Vater. Heinz
Ginzkey besuchte zunächst das Gymnasium in Reichenberg und
dann in Feldkirch (Stella matutina) in Vorarlberg. Als Hörer
der Technischen Hochschule in München studierte er vor allem
Chemie, ging dann nach Bradford (England), um den
Schafwollehandel in allen seinen Sparten zu studieren und zu
erlernen. Zurückgekehrt nach Maffersdorf übernahm er im
Ginzkeyschen Unternehmen den Wolleeinkauf und die Leitung der
Streichgarnspinnerei und Kunstwolleerzeugung. Er heiratete
Margarethe Seidel aus Tiefenbach. Der "besitzenden
Klasse" zugezählt, kam die Familie 1945 in das
Internierungslager auf dem Ausstellungsgelände in Reichenberg
und der Vater für ein Jahr in Haft ins Kreisgericht. Nur, wer
dort war, kann ermessen, was das bedeutete an Erniedrigung,
Qual, Verzweiflung und Todesangst. Das Ehepaar Heinz und
Margarethe Ginzkey hat nach 1947 in St. Martin bei Lofer die
"Textilbetrieb Lofer G.m.b.H." mitgegründet und
geführt. In Lofer sind sie 1971 und 1993 gestorben. Die
Tochter Yolanda lebt mit ihrer Familie in der Schweiz. Hier
nun ihre Worte:
Die
Geschehnisse in einem Zu-Hause im Jahr 1945 waren ein
innerliches Ausgebrannt-werden, für alle Familien ein
Existenzzusammenbruch, auch für die eigene. Für ein Mädchen
von 14 Jahren war es ein erschreckendes und zugleich
verblüffendes Leben mit aufgehenden Horizonten, die man in
diesem Alter nicht erwartete und wohl kaum zu beurteilen
fähig war. Erst das Ausbluten einer lieb gewordenen
Nachbarschaft, dann seelisch getroffen, als menschliche Person
nicht mehr respektiert und reduziert zu Kofferträgern.
Die Russen
kamen und mit ihnen der Befehl, unser Haus zu verlassen.
Unsere Familien wurden im Haus von Herrn Mallmann
"konzentriert". Noch herrschte
"Herrenhausatmosphäre" mit dem verlöschenden Hauch
des Gro βindustriellentums.
Das Haus umlagert von Russen, ich selbst im ersten Stock
Agatha Christie lesend; Spannung kompensiert durch Spannung.
Wir kehrten in
unser eigenes Haus zurück, und während um uns herum die
Aussiedlung begann, der Schmerz des Abschieds das Dorf
einfrieren lie β,
bekam unsere Familie das "Verbot", das Boot zu
verlassen. Der ausblutende Betrieb muβte ja mit der
Erfahrung der "Alten" am Leben erhalten, neu
aufgefüllt werden. Mein Vater hatte also zu Diensten zu
stehen. - Herr Mallmann und seine Familie wurden nun in unser
Haus eingesiedelt. Für mich als Einzelkind gab es
Familienzuwachs durch drei Mallmannkinder, und meine
Führungsrolle als Kindergärtnerin beglückte uns zu viert.
Ich lernte in Kürze, was es heiβt, ein Risiko
einzugehen. Als ich beim Gemüsestehlen
im eigenen Garten, sozusagen Familienunterstützung, erwischt
wurde, kam die Drohung: Verschickung der Kapitalistentochter
ins Landesinnere zum Arbeitseinsatz. Einem klugen Vater gelang
es, auch in dieser Lage umzuleiten. So begann ich in der
Betriebsgärtnerei zu arbeiten. Erfahrung mit dem Wachsen von
Blumen und Gemüse, Jause halten mit den Gärtnern - einfach
einmalig!
Dann auch für
uns ein neuerlicher gro βer
Wendepunkt:
Auf die
nächtliche Flucht eines Familienteils folgten sofortige
Konsequenzen. Unsere Familie wurde im Reichenberger Lager
interniert, wo wir 14 Monate verblieben. Das erste Mal wurde
die Familie getrennt: Vater kam in die Männerbaracke, Mutter
und ich gemeinsam in ein Zimmer in die Frauenbaracke. Tante
Ada Ginzkey war auch dabei. Das hie β
jetzt, Leben auf engstem Raum: Stockbetten mit übelriechenden
Strohsäcken, neue Menschen, neue Bindungen, neue Ängste, Häβlichkeiten,
Lachen... Schlangestehen für die allernotwendigste
Nahrungszufuhr: Wasserkaffee und Wasserkartoffeln. Antreten
zur Arbeitseinteilung: Die Einsätze in der Stadt bedeuteten
Lichtblicke, Einsätze ins Innere des Landes lieβen jeden
Morgen viele erschauern. So lernten
wir das Innere des Bahnhofes kennen: Fässer rollen,
Besenarbeit, Kücheneinsatz (ein Lichtblick, da fielen die
Brosamen vom Tische der Auserwählten ab.)...
Dann die
Verbannung innerhalb des Lagers. Warum? Irgendeinem
Kapitalisten aus uns bekanntem Kreise war es gelungen zu
entkommen. Wir mu βten
dafür büβen. Vater durfte "drauβen"
keine Kohlen mehr verladen, meine Mutter, zum Barackenleben
verurteilt, zauberte mit ihren Händen
Wollhandschuhe, im Norwegermuster mit dem doppelschwänzigen
tschechischen Löwen gestrickt. Die Herren Kommissare schonten
wärmevoll ihre Hände damit.
Ein kleines
Wunder geschah für mich. Ich wurde aufgerufen, als
Arztgehilfin bei Frau Dr. Pochmann zu arbeiten: Ofen
anschüren, Instrumente sterilisieren, Verbände, Pflaster,
Schüssel halten zu den kaum vermuteten Möglichkeiten
menschlicher, gesundheitlicher Unbilden. Sehr bald hatte ich
einen "Diener" für den Ofen, und nach den betreuten
Wunden gab es ein Extraessen für die "Höheren":
Kartoffeln in Senfsauce, täglich schon erwartet. Von "Au βer-Lager-Konsultationen"
brachte die Chefin Nahrungsspenden "heim". So wurde
ich in den Kücheneinsatz
hineinkatapultiert: Eierlikörfabrikation, Kaninchen- und
Ziegenbratenbereitung.
Eine Welle der
Lebenskraft, eine Welle neuer Begegnungen, - Menschen, Ängste
und Entladungen im Lachen. Neue Quellen taten sich auf: Ich
bekam Ausgangserlaubnis mit Rot-Kreuz-Binde unter dem Namen
"auf Mission". Ich begab mich in die Apotheke, aber
auch zu Freunden, brachte Leckerbissen und Blumen mit in die
"Stadt" der Bedrückten. In meiner Überlebenskoje
hatte ich mir ein Miniatur-zu-Hause eingerichtet: Ein kleines
Brett mit Seilen befestigt, ein oder zwei winzige Schätze von
daheim darauf und eben auch Blumen, die ich mir -ausgehungert-
im Traum dann schmecken lie β.
Unter mir im Raum Gertraut, weinend, mit Läusen
in ihrem schönen blonden Haar. Es gab auch ein Bügelbrett.
Bei Gertrauts Mutter bekomme ich die ersten Bügelstunden; im
besonderen die Technik für Herrenhemden. Lieder, Gedichte,
klappernde Stricknadeln und dann wieder das Schütteln der
Hemden, der Nachthemden, in denen die Wanzen nisteten, im
Kampf zerdrückt, ihr oder vielmehr unser Blut als Siegel
hinterlassend. Diese Wanzen liebten die Mondnächte. Bepustelt
wachte man auf, und es folgte ein Tag der Fürsorge für die
gequälte Haut.
Versetzung
zunächst meines Vaters, dann meiner Mutter und meiner Tante
ins Kreisgericht. Besuche mit Gittern zwischen uns. Feinhörig
für jede Schicksalsdeutung in der Not, wei β
eine Rumänin in der Zelle meiner Mutter, ihr magisches Talent
nützend, aus dem eher ärmlichen Kaffeesatz zu lesen:
"Eine schlechte Nachricht, über den kurzen Weg, über
ihre Tochter." Ihr Wort in Gottes Ohr: Dem
Schicksalsspruch entgegenkommend ergoβ sich kochendes
Wasser beim Sterilisieren über
meine Oberschenkel, Verbrennungen dritten Grades.
Krankenbaracke und Schicksalslichtblick: Ich wurde von Dr.
Demuth gepflegt, Freund des Hauses und Arzt meiner Mutter. Und
er war es auch, der mir half, einen bedeutenden Wandel in mir
zu verstehen.
Rückkehr der
"Damen" aus der Zelle. Meine Tante wurde sofort zur
Ausweisung "frei" gegeben. Mein Vater blieb bis zu
seinem Proze β
im Kreisgericht. "Herr Ginzkey erschien in einem
tadellosen Golfanzug ..." Kapitalist mit einem ziemlich
guten Ruf, voller Diplomatie und besonderem sozialen Gespür...
Ein Jahr genügte also. -
Mit unseren
Freunden, der Familie Turnwald, durften wir jetzt ausgesiedelt
werden. Lebensraum: Viehwagen, Besitz: im Koffer. Eisige
Kälte! Furt im Wald öffnete uns die Tür zur Freiheit.
Sechs Monate
wohnten wir dann in Westerbuchberg in der Nähe von Traunstein
bei der Cousine meines Vaters. Die Eltern waren beim Bauern
nebenan untergebracht, Turnwaldtante und ich hausten im
Häuschen des Kuhhirten neben dem Stall, einem unbewohnten
Stall, der uns nicht zu wärmen vermochte. In uns blühten
Eisblumen.
Das Leben war
so mannigfaltig bereichert worden, und doch schien es mit
einem Mal notwendig zu werden, nach den Wanderjahren an die
Lehrzeit zu denken. So ging ich nach einer langen Pause in
Marquartstein wieder zur Schule. Zunächst war das ein sehr
bitterer Tropfen. Zum Gehorsam erzogen ... in diesem eisigen
Winter! Nach all dem Erlebten sich zu etwas überwinden zu
müssen, von dem man nicht einmal mehr wu βte,
daβ so etwas zur Lebensgestaltung gehören sollte.
Überwindung brauchte das Aufstehen im Vormorgengrauen; heiβe,
dicke Suppe stand bereit, und dann der Weg, der zur Bahn führte,
die wiederum zur unvermeidlichen Schule... "Von Mietenkam
dann mit der Bahn ins warme Stübchen von Professor
Rahm," so formuliert von meinem poetischen
Nachhilfelehrer.
Befreit und
doch belastet, begann ich wieder als Schülerin zu leben,
während meine Eltern weiter planten. Daraus resultierte ein
neuerliches Weggehen und eine Einreise nach Österreich im
Jahr 1947. Lofer - Familie Siegmund - ein Handwebstuhl - eine
Aufnahme - ein neuer Beginn: Textilbetrieb Lofer.
In Salzburg
ging es dann mit der Bildung weiter. Auf eine Art und Weise
war ich in eine nicht mehr gewünschte Kindheit
zurückversetzt. So bin ich dann doch noch erwachsen geworden.
Ein Wachsen, das nicht einfach verlief, da ich immer dabei
war, einem schon einmal gewesenen Erwachsen-Sein nachzulaufen
- .
Und in mir der
Traum meiner Jugendzeit in unserem zu-Hause in Maffersdorf -
so bewahrt in mir, in seinem ganzen Erfüllt-gewesen-sein.
Ich bin nie
mehr zurückgekehrt ...
Heimat ist zu
einem Gefühl geworden, ist kein Ort mehr.
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