Walter Wirth - Das Jahr 1938

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WALTER WIRTH
(* 1928)

Das Jahr 1938
aus seinen Erinnerungen an eine ereignisreiche Jugend

 

Die politische Entwicklung Deutschlands nach der Machtergreifung Hitlers wurde zunächst von den Deutschen in der Tschechoslowakei kaum beachtet. Erst die Olympiade, die 1936 in Berlin stattfand und die Hitler zu einer eindrucksvollen Machtdemonstration genutzt hatte, änderte dies.

Der Olympiafilm von Leni Riefenstahl, der auch in den Lichtspieltheatern der Tschechoslowakei gezeigt wurde, lenkte die Aufmerksamkeit auf das wiedererstarkte Deutsche Reich und weckte bei den Sudetendeutschen neue nationale Gefühle und Hoffnungen. Diese explodierten geradezu, als am 13. März 1938 Österreich dem Deutschen Reich als Ostmark angegliedert wurde. Zum ersten Male sah ich damals eine Hakenkreuzfahne im Original. Sie war neben einer tschechoslowakischen Flagge vor einem Haus neben unserer Schule gehiβt worden. Aufgeregt rannte ich nach Hause, um meiner Mutter die groβe Neuigkeit mitzuteilen. Ich konnte mir das nicht erklären, begriff aber, daβ etwas Auβergewöhnliches geschehen sein muβte und war sicher, daβ nun bald die Polizei einschreiten würde. Aber es geschah nichts. Meine Eltern erklärten mir am Abend, daβ in dem erwähnten Haus Österreicher wohnten, die nun deutsche Reichsbürger wären und daher das Recht hätten, die deutsche Fahne zu hissen.

Bald aber waren Hakenkreuzfahnen öfter zu sehen. Hitler hatte nach dem Einmarsch in Österreich der Welt den Anschluβ des Sudetenlandes als sein nächstes Ziel genannt. Nachdem den Deutschen in der Tschechoslowakei das Selbstbestimmungsrecht jahrelang verweigert worden war, erhoffte man sich nun die Hilfe des Deutschen Reiches. Hitlers Worte fielen daher auf einen fruchtbaren Boden, und der Funke sprang rasch über und wurde zum Flächenbrand. Das hatte nichts mit Nationalsozialismus als Ideologie zu tun, denn den kannte man hier noch gar nicht. Es war der reine Nationalismus, der zu einer lodernden Flamme entfacht worden war. Der forderte nun natürlich auch die tschechischen Nationalisten heraus. Es flogen Steine und es kam zu Schlägereien. Am 20.5. 1938 machte der tschechoslowakische Staat mobil, nachdem bei den Gemeinderatswahlen die sudetendeutsche Partei des in Maffersdorf geborenen Turnlehrers Konrad Henlein 92 % aller deutschen Stimmen erhalten hatte.

Alle Reservisten wurden eingezogen, darunter auch Deutsche. Viele wehrpflichtige Männer, so auch mein Vater, versteckten sich im Wald, um den Rekrutierungskommandos zu entgehen. In der Nachbarschaft war ein regelrechter Wachdienst organisiert worden. Sobald ein Fremder auftauchte, informierte einer den anderen, und die Männer verschwanden. Tatsächlich hatten sich auch viele Männer über die nahe Grenze nach Deutschland abgesetzt, denn die politische Atmosphäre war im Sommer 1938 so aufgeheizt, daβ man täglich mit einer kriegerischen Auseinandersetzung rechnen muβte.

Auch meine Eltern waren sehr besorgt, und mein Vater überlegte, wie wir uns vor militärischen Einwirkungen schützen könnten. Da man von einer schnellen Entscheidung ausging, kam er auf die Idee, uns für einige Tage in den Keller einzumauern. Unser Haus war teilweise mit einem aus Granit gemauerten Gewölbe unterkellert. Ging man die Treppe hinab, so kam zunächst ein kleiner und schmaler Vorraum, der nach etwa drei Metern wesentlich breiter wurde. An dieser Stelle errichtete mein Vater eine Trennwand. Er benützte dazu die Granitsteine, die Jahre zuvor bei einem Umbau im Hause angefallen waren. Nur unten blieb eine quadratische Öffnung von ca. 1/2 Meter Kantenlänge. In diese wurde ein Stein eingepaβt, der von innen mittels eines einbetonierten Griffes in die Öffnung geschoben werden konnte. Bevor dies geschah, konnte man ebenfalls von innen eine mit Kartoffeln gefüllte Kiste an einem Lederband vor die Öffnung ziehen. Für einen von oben kommenden Betrachter war somit nicht zu erkennen, daβ sich hinter dem kleinen Vorraum ein weiterer befand. Natürlich hatten wir für genügend Luftzufuhr sowie Schlaf- und Sitzmöglichkeiten gesorgt. Auch Lebensmittel waren gelagert worden, darunter eine ganze Kiste mit Schokoladeriegeln. Für uns Kinder war das Ganze natürlich ein besonderer Spaβ, denn wir muβten mehrmals übungshalber "probewohnen".

Der englische Diplomat Lord Runciman wurde zur Beobachtung der Situation in die Tschechoslowakei entsandt. Er empfahl der Regierung Benesch, den Sudetendeutschen die Autonomie zu gewähren, denn er erkannte, daβ 1918 mit der Einbeziehung Deutschböhmens in den neuen tschechischen Staat ein Fehler gemacht worden war, weil die rund dreieinhalb Millionen Deutschen durchaus in einem geschlossenen Siedlungsgebiet Böhmens lebten, was die tschechischen Staatsgründer immer bestritten hatten. Inzwischen verstärkte Hitler den Druck auf die tschechische Regierung. Am 7. Juli brach Henlein die Verhandlungen mit Benesch ab, obwohl dieser jetzt den Deutschen die Autonomie zugestehen wollte, und forderte die Eingliederung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich. England glaubte zu dieser Zeit noch daran, daβ dies die letzte Gebietsforderung Hitlers wäre und wollte unbedingt eine kriegerische Auseinandersetzung vermeiden. Premierminister Chamberlein erklärte sich gegenüber Hitler bereit, der Tschechoslowakei eine Abtretung des Sudetenlandes nahezulegen. Hitler aber forderte ultimativ die Übergabe zum 1. Oktober 1938, die tschechische Regierung lehnte am 25. September ab. Am 29. September kam es zum Münchner Abkommen zwischen Chamberlein (England), Mussolini (Italien), Hitler (Deutschland) und Daladier (Frankreich), in dem beschlossen wurde, daβ die Tschechoslowakei die deutsch besiedelten Randgebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens vom 1.-10. Oktober räumen und an das Deutsche Reich abtreten muβ. Die Rest-Tschechoslowakei sollte eine Garantie der Groβmächte gegen unprovozierten Angriff erhalten. Hitler und Chamberlein unterzeichneten eine deutsch-britische Nichtangriffserklärung.

Damit war die Kriegsgefahr abgewendet, und uns war neben anderen Unannehmlichkeiten ein mehrtägiger Aufenthalt im Kellerversteck erspart worden. Wir Kinder begrüβten das besonders, denn nun hatten wir eine ganze Kiste Schokolade zur Verfügung, die ihren Sinn als Notration verloren hatte.

In der Nacht zum 8. Oktober habe ich schlecht geschlafen. Ich war zu aufgeregt, denn mein Vater hatte mir versprochen, mit mir am nächsten Tag zum Marktplatz in Reichenberg zu gehen, um den Einmarsch der deutschen Truppen und die groβe Parade anzusehen. Wir verlieβen das Haus bereits am Vormittag. Bald stellte sich heraus, daβ dieser frühe Aufbruch sinnvoll war, denn die Straβen der Innenstadt waren bereits überfüllt. Als wir die zum Marktplatz ansteigende Schückerstraβe hinaufgingen, war nur noch der Gleisbereich der Straβenbahn als sehr schmale Schneise frei. Plötzlich tauchte ein Radfahrer auf, der die steile Straβe zum Tuchplatz abwärts fuhr. In unserer Höhe geriet er mit dem Vorderad in die Schiene, stürzte und schlug mit dem Kopf auf. Nach einer Erste-Hilfe-Versorgung wurde er weggetragen. Ich muβte den ganzen Tag an ihn denken. Mein Bedauern galt aber weniger seiner Verletzung als der Tatsache, daβ er das groβe Ereignis nicht miterleben konnte.

Mein Vater war damals bei der Heizungsfirma Wagner angestellt, die ihr Büro direkt gegenüber dem Rathaus hatte. Da alle Fenster schon besetzt waren, gingen wir in das Dachgeschoβ. Durch eines der beiden Gaubenfenster gelangten wir auf das Dach. Vorsichtig hangelten wir uns nach unten, bis wir die Füβe gegen das Schneegitter stemmen konnten. So gesichert, wagte ich den ersten Blick in die Tiefe. Mit Genugtuung stellte ich fest, daβ wir geradezu einen Logenplatz für die Zeremonie am Marktplatz hatten. Wir waren auch durchaus nicht die einzigen Zuschauer in luftiger Höhe. Die ersten deutschen Einheiten hatten schon am 1. Oktober die Grenze überschritten und am 3. Oktober Ruppersdorf besetzt. Von dort erfolgte nun der Einmarsch ins Stadtinnere. Pünktlich um 14 Uhr tauchte die Spitze der Marschkolonnen auf. Es war ein beeindruckendes Schauspiel, als Formation auf Formation von der Lerchenfeldgasse kommend, am Judentempel und dem Stadttheater vorbeizog und unter dem Jubel der Bevölkerung im Stechschritt auf den Rathausplatz einschwenkte. Die Zeremonie erreichte ihren Höhepunkt, als dem kommandierenden General die Besetzung der Gauhauptstadt Reichenberg gemeldet wurde.

Die Ereignisse dieses Tages beschäftigten mich noch lange, und es wurde zu Hause viel darüber diskutiert. Meine Eltern bewegte vor allem die Frage, wie wohl unsere Zukunft aussehen würde. Ich schlief an diesem Tage in dem Bewuβtsein ein, das Geschehen eines geschichtsträchtigen Tages miterlebt zu haben.

Mein Vater war, obwohl durchaus unpolitisch, seit vielen Jahren Mitglied der Sudetendeutschen Partei. Als solches wurde er nach dem Anschluβ automatisch in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) übernommen. In den Folgejahren wurde er daher stets gedrängt, in eine Parteiorganisationen aktiv einzutreten oder ein Parteiamt zu übernehmen. Er hat dies aber immer abgelehnt. Ich war im Sommer an meinem 10. Geburtstag von meinen Eltern bei der deutschen Turnerjugend angemeldet worden. Ich nahm wöchentlich an den Turnstunden und gelegentlich an Fahrten teil. Dies waren Ausflüge in die Umgebung, bei denen man sich abends ums Lagerfeuer setzte und alte Volkslieder sang. Der "Anschluβ" brachte auch hier eine automatische Überführung mit sich. Die Deutsche Turnerschaft wurde in die Hitlerjugend eingegliedert.

Daβ am 10. November 1938 in der "Reichskristallnacht" auch der Judentempel in der Lerchenfeldgasse niedergebrannt wurde, sah man zunächst als Unfall an. Als aber kurz darauf die Judenhetze einsetzte und der Rundfunk die Vernichtung aller Synagogen im Reich meldete, wurde man hellhörig und nachdenklich. Besonders meine Mutter zeigte sich betroffen. Ihr Arzt und ihr Zahnarzt, die sie seit Jahren schon konsultierte, waren beide Juden. Sie waren eines Tages ebenso verschwunden wie das Lebensmittelgeschäft des Juden Bon in der Hablau.

In den Restmonaten des Jahres 1938 erlebte Reichenberg geradezu einen Ansturm der politischen Gröβen des Reiches. Der Hitlerjugend kam dabei die Aufgabe zu, Spalier stehen zu dürfen. So bekam ich damals alle persönlich zu sehen: Frick, Heβ, Göring, Himmler, Göbbels, von Schirach, Rust, Ley u.v.a. Hitler selbst kam am 2.12.1938 mit einem Sonderzug am Hauptbahnhof in Reichenberg an. Mir wurde als Fähnchenschwinger ein Platz an der Treppe zum Bahnsteig zugewiesen. Der "Führer" kam die Treppe herab und ging nur wenige Meter entfernt an mir vorbei. Ich war etwas enttäuscht, denn mir fiel auf, daβ ihm seine Mütze offensichtlich zu groβ war, und ich wunderte mich darüber, daβ ihn niemand darauf aufmerksam gemacht hatte. Auch fiel mir auf, daβ er beim Gruβ den rechten Arm abwinkelte und nach hinten abbog. Uns war dagegen beigebracht worden, beim "Deutschen Gruβ" den Arm gestreckt zu halten. Vom Rest des Geschehens erlebte ich nichts mehr, aber ich beobachtete noch den Zeppelin, der über dem einfahrenden Zug eingetroffen und noch stundenlang über der Stadt zu sehen war.

Der am 18.12.1935 gewählte Staatspräsident der Tschechoslowakei, Eduard Benesch, begab sich am 5.10.1938 in die USA ins Exil. Sein Nachfolger wurde am 30.11.1938 Emil Hacha. Der Slowakei und der Karpatenukraine war zwischenzeitlich die jahrelang verweigerte Autonomie gewährt worden. Es war jedoch zu spät. Die Slowakei erklärte am 14.3.1939 ihre Unabhängigkeit und stellte sich unter den Schutz des Deutschen Reiches. Ungarn besetzte die Karpatenukraine, der die Unabhängigkeitserklärung ebenfalls nichts mehr nützte. Hitler nahm diese Situation zum Anlaβ und beschloβ die Zerschlagung der Tschechoslowakei. Am 15. März 1939 erfolgte der Einmarsch der deutschen Truppen in den nur noch aus Böhmen und Mähren bestehenden Reststaat, nachdem Staatspräsident Hacha den Vertrag über die Schaffung des Reichsprotektorates Böhmen und Mähren unterzeichnet hatte. Das internationale Vertrauen in die deutsche Politik war durch diesen Gewaltakt, der dem Münchner Abkommen widersprach, endgültig zerstört. Es zeichnete sich die Gefahr des Ausbruches eines europäischen Krieges ab.

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