Albrecht Appelt - Zehn Jahre meines Lebens

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ALBRECHT APPELT
(* 1920)

Zehn Jahre meines Lebens
 

 

Albrecht Appelt stammt aus Maffersdorf Nr. 712, am Schlenzberg bei der Wegegabelung. Sein Bericht steht hier für alle Maffersdorfer, die die Schrecken und Leiden von Krieg und Gefangenschaft erfahren, durchlitten oder nicht überlebt haben. Alles zu schreiben würde ein ganzes Buch füllen. So soll zuerst eine Übersicht stehen und dann ein Blick auf die Aufzeichnungen des Jahres 1945 folgen.

 

1939   
 
 
Juni
Juli - September
Oktober
Matura an der Lehrerbildungsanstalt
Arbeitsdienst
Übernahme in die Wehrmacht
1940 Mai - Juli  Frankreich  Infanterie
1941
 
April
Juni - Dezember
Jugoslawien
Sowjetunion
Panzerdivision
Südabschnitt
1942
 
 
 
Januar - April
Mai - September
Oktober, November
Dezember
 
Deutschland
Stalingrad
 
Winterkämpfe
Lehrgang, letzter Urlaub
Wolgafront
Kesselfront
1943
 
 
 
Januar
Februar
März - Mai
Juni - Dezember
vermiβt
 
Jelabuga/Kama
 
Kesselzerschlagung
Gefangenschaft
Das groβe Sterben
Arbeitseinsätze
1944
 
 
 
Januar - April
Mai - Juli
August - September
Oktober - Dezember
 
 
 
 
Holztouren
Feldarbeiten
Ernteeinsätze
Holz- und Getreidetouren
1945
 
 
Januar - August
September, Oktober
November, Dezember
 
nahe Kasan
Selenodolsk
wie 1944
Chaoslager
Hauptlager, Fabrikarbeit
1946
 
 
 
 
 
Januar - März
April
Mai
Juni - Oktober
November
Dezember
 
Kasan
 
 
 
 
Fabrikarbeit
E-Werk, Kesselhaus
Schreiberlaubnis
Beginn als Spezialist
1. Karte v. den Eltern
Zimmermann
1947
 
 
Januar - April
Mai
Juni - Dezember
 
 
Selendolsk
wie vorher
Silikatlager
Furnierlager
1948
 
 
Januar - September
Oktober
November, Dezember
 
 
Krasnoarmejsk
Tischler
nahe Stalingrad
Wolga-Don-Kanalbau
1949
 
 
 
 
Januar - November
Dezember 
Hl. Nacht
29. Dezember
31. Dezember
 
Stalingrad
Brest-Litowsk
Frankfurt/Oder
Bad Hersfeld
Verwaltungsbau
Lazarett, Transport
 
Entlassungsschein
Heimkehrerlager
1950
 
2. Januar
 
Höchst i. Odw.
 
Rückkehr zu Eltern und
Geschwistern

 

Nun Albrecht Appelt selbst mit Text(gekürzt) und Zeichnungen:

In den Fronteinsätzen war ich als Melder zu Fuβ ununterbrochen ganz vorn bis in den März 1942 hinein. Wenige Tage vor dem Marschbefehl in die Heimat führte ich eine Gruppe. Als ich am 9.4.1942 von meiner bisherigen Kompanie wegging, gehörte ich zu den vier oder fünf letzten Soldaten, die das Glück hatten, nicht tot oder schwer verwundet zu sein. Nach den schweren Rückzugskämpfen von der zugefrorenen Donmündung in Rostow im November 1941 wurde ich zum wiederholten Male gefragt, ob ich nicht Offizier werden wollte, was ich bis dahin stets abgelehnt hatte. Diesmal sagte ich zu, um mein sehr wahrscheinlich tragisches Schicksal wenigstens hinauszuschieben. Trotzdem muβte ich die noch schlimmeren Winterkämpfe gegen die sowjetische Winteroffensive durchstehen. Durchstehen? Wir lagen im März 1942 vier Wochen auf dem Bauch im Schnee! Aufstehen bedeutete Tod.

Als Leutnant (1.10.1942) bekam ich noch ein paar Tage Urlaub. Es war mein letzter Aufenthalt im Kreise der ganzen Familie in unserem Vaterhaus. Danach Stalingrad mit seinen Toten, dem Hunger, der Eiseskälte, den Erfrierungen, der Schlaflosigkeit, der Aufopferung der 6. Armee. Gefangenschaft war unvorstellbar, hatte ich doch selbst die Ermordung eigener Verwundeter im Bataillon feststellen können. Sie waren bei einer chaotischen Flucht im Februar 1942 zurückgeblieben. Bei der Wiedereinnahme des Dorfes fanden wir sie, mit Kopfschüssen getötet.

Und gerade die plötzliche, unverhoffte Gefangennahme am 28. Januar 1943 war meine Rettung. Ich war in die Bajonette von fünf Rotarmisten wie in eine Mausefalle getappt. Von den mehr als 100.000 Gefangenen starben in Gefangenschaft 95% !

 

Mein Jahr des Kriegsendes 1945

Die wenigen Panjepferdchen zur Versorgung des Lagers waren im Winter 43/44 an einer Seuche zu Grunde gegangen, Zugmaschinen oder LKWs gab es nicht, die verschlang der Krieg. So wurden wir zum Zugvieh.

Um 5 Uhr wurden wir geweckt, holten Brot und warteten auf den Abruf zur Morgensuppe. Zur Suppe schlagen wir uns die ganze Tagesration Brot in den Bauch und sind wenigstens einmal am Tag satt, anders hätten wir die bevorstehende Tortur nicht überstanden. Noch einmal warten wir in den Unterkünften, bis die Schlittenkommandos aufgerufen werden. Noch ist es finster, nur der Schnee leuchtet schwach, wenn wir unsere Schlitten holen und uns auf der Lagerstraβe aufstellen. Wir überprüfen unsere selbst zurecht gemachten Zugvorrichtungen. Bis der Schlittenverband aus zwanzig bis dreiβig Schlitten marschfertig ist, sind wir zum Warten gezwungen. Da erst merken wir die bissige Kälte, die jedes Gespräch erstarren läβt. Wenigsten tragen wir in diesem zweiten Schlittenwinter abgetragene und geflickte Filzstiefel der Roten Armee und nicht mehr die verfluchten Lederstiefel der Wehrmacht, denen wir u.a. die Katastrophen im ersten und zweiten Kriegswinter verdankten. Mit Hellwerden setzt sich die Schlittenschlange in Bewegung. Schon mit der Wahl der Ausfallstraβe rätseln wir, wie weit es heute geht. Die Straβe am Klosterlager vorbei verspricht eine der kürzern Touren, mindestens aber zwölf bis dreizehn Kilometer einfachen Weges. Biegen wir aber gleich beim Kamalager nach Osten um, sind siebzehn Kilometer zu erwarten. Hier ist die schutzlose, allen Unbilden ausgesetzte Strecke zwischen Jelabuga und dem Wald besonders groβ. In den Tagen, an denen der Buran pfeift und den Schnee in einem wehenden Staubmeer vor sich hertreibt, sieht man oft nur die Köpfe, höchstens noch die Schultern der Gefangenen herausragen. Zwar sind wir bis zur Unkenntlichkeit vermummt, tragen selbst gemachte Nasenschützer, und trotzdem erfrieren noch freie oder schwach geschützte Stellen des Gesichtes oder die Hände. Da hilft nur Einreiben mit Schnee.

Drei bis vier Stunden sind vergangen, wenn wir den Ladeplatz erreichen. Oft liegt das Holz noch abseits des Weges und ist keineswegs gestapelt, so daβ wir regelrecht suchen müssen, um die Zweimeterstämme aus dem tiefen Schnee herauszubuddeln. Das gibt noch einmal gefährlich kalte Hände. Die Norm ist ein Festmeter, den wir laden müssen, also mindestens 800 kg, je Mann gut 100 kg Zuglast. Der Rückweg kostet Zeit und Kraft. Keine der Strecken ist eben, Höhen und Fluβmulden sind zu überwinden, Schneeverwehungen machen zu schaffen, Ladungen verrutschen, Schlitten stürzen um. Für einen wohlgenährten Landser sind Tagesmärsche von 30 km die Regel. Er hat, abgesehen von Kriegseinsätzen, sein Jausenbrot im Brotbeutel und Tee in der Feldflasche, die Feldküche versorgt ihn mit nährstoffreichem Eintopf. Auch der abgehärtetste Wanderer wird einen solchen Tag nicht ohne Rast und im Winter ohne Einkehr hinter sich bringen. Und wir? Keiner aus den Reihen des Zugviehs hat sein normales Körpergewicht, nur knapp sind wir dem Tod von der Schippe gesprungen. Aus der Lagerküche schöpfen erst einmal die sowjetischen Funktionäre, dann die Emigranten, Altkommunisten aus Deutschland, die die Gefangenen vom Nationalsozialismus befreien sollen und mit doppelten Essensrationen in die Antifa locken. Lagerleitung, Kulturbrigade, Küchen- und Speisesaalposten, Brotschneider, Bäcker, Klempner, Schlosser, Friseure, Sanitäter, Ärzte - alle mästen sich aus der Lagerverpflegung auf Kosten der übrigen Gefangenen.

Also ziehen wir jetzt unsere Last mit längst leerem Magen, wieder ohne Pause, gleich ob Sturm oder stehende, bissige Kälte, gleich ob - 27 oder nur - 15 Grad, niemand hängt uns einen Hafersack um, wie man es Pferden zubilligt, wenn sie so lange unterwegs wären wie wir. Un selbst, wenn jemanden während des langen Tages die Notdurft überfällt, er aus dem Geschirr geht und sich ein paar Schritte weiter hinhockt, selbst das ist lebensgefährlich. Einer ist erschossen worden mit der Begründung, er hätte fliehen wollen. Wenn bei klarem Wetter die Turmkreuze der drei Kirchen Jelabugas golden aufblitzen, wachsen noch einmal die überstrapazierten Kräfte; wir riechen den Stall.... 25 km, oft 30 km und auch nicht gerade selten 34 km liegen hinter uns, und das nicht einmal, auch nicht ab und zu, sondern täglich ...

Mitte April schlägt der Winter fast übergangslos in den Sommer um. Nach einem kurzen Benutzungsverbot der Straβen zieht jetzt ein Teil der Schlittenbesatzungen das notwendige Holz auf Panjewagen aus den Wäldern. Jetzt sind es Hitze, Staub und Schlaglöcher, die für zusätzliche Strapazen sorgen. Es gibt auf den freiliegenden, langen Strecken keinen Flecken Schatten und keinen Tropfen Wasser.

Auch bei der Feldarbeit sind die Gefangenen als Zugtiere eingesetzt. Wenigstens sechzehn Mann ziehen mit der primitiven Zugvorrichtung aus Stacheldraht und Knüppeln den schweren, widerspenstigen Pflug, ebenso die für Motorkraft gebauten Eggen. Acht Stunden Schwerstarbeit mit Schweiβ, Hunger, Durst - es gibt keinen Schluck Wasser, kein Mittagessen auf dem Feld, keinen Quadratmeter Schatten - und jeden Tag brennt die Sonne vom einem blauen Himmel ...

Der 8. Mai 1945. "Wojna kontschena!" (Der Krieg ist beendet) so schlug uns der Lagerkommandant das Ereignis um die Ohren, wie einen nassen Fetzen. Wir kannten seine gehässige Art. Seine verbalen Säbelhiebe schmerzten uns sehr, weil wir sie als Gefangene nicht parieren konnten. Wir waren schon allein durch den sachlichen Inhalt tief getroffen, weil unser Deutschland, für das wir in gutem Glauben gekämpft und alle Widernisse ertragen hatten, nun todwund in den Trümmern seiner zerbombten Städte am Boden lag. Dabei wuβten wir damals nicht, was auf deutschem Boden geschehen war: Rückzug, Flüchtlingstrecks, erschossene Zivilisten, geschändete Frauen, Plünderung, Zerstörung, Dresden, Verteibung ... eine Vernichtungsorgie, wie sie noch kein Landstrich über sich ergehen lassen muβte.

Für uns Kriegsgefangene lieβ der 8. Mai die Hoffnungen auf Heimkehr lawinenartig ansteigen. Aber sie waren vergebens. Auch schreiben durften wir noch lange nicht. Unsere Angehörigen wuβten immer noch nicht, ob wir gefallen, erfroren, gestorben oder am Leben waren. Die Arbeiten gingen weiter.... Im September Transporte! Die Optimisten glaubten an Heimkehr. Mit einem der groβen Kamadampfer fuhr ich mit ausgesuchten Mitgefangenen der Arbeitsstufe I zwar stromabwärts in westlicher Richtung, aber schon in der Nähe der tatarischen Hauptstadt Kasan wurden wir in ein ungewohnt kleines Lager gesteckt. Bald merkten wir, das es noch schlechtere Lager gab als in Jelabuga. ... Der russische Lagerkommandant war ständig betrunken und verschob alles, was er in Hände bekam. Die Verpflegung war katastrophal. Tagsüber Arbeit in der Ziegelei, nachts Entladen von Mehlsäcken aus den Wolgaschiffen. Ich weiβ nicht, wie viele hundert Säcke von jedem von uns aus dem Schiffsbauch über die steile Treppe und über eine Planke zum Förderband getragen werden muβten. Das war "Schwarzarbeit". Sicherlich haben sich Kapitän und Lagerkommandant in das Entladungsgeld geteilt....

Nach diesem Einsatz kamen wir in das Hauptlager Selenodolsk, nördlich von Kasan. Es ist kein "Grünes Tal" der Hoffnung, was man aus dem Namen schlieβen könnte, sondern ein Abgrund, in den nicht nur der Schnee und die Kälte des Winters 1945/46 fallen, sondern auch unsere Seele und alle Hoffnung auf Heimkehr, nur noch überleben willst du! Du beschwappst dich mit dem Urin der Pinkeltonnen, du trittst in die Scheiβe der nachtfinstern Latrine, du friβt knirschenden Sand zwischen schwarzen Kohlblättern, es gibt keinen Sonntag und keinen arbeitsfreien Tag... Im Zehntagerythmus gehst du nach der Arbeit durch die Entlausung, wirst kahl geschoren ... und das Thermometer sinkt unter - 42 Grad. ... Wir können täglich die groβe Wolgabrücke sehen, über die die Züge der transsibirischen Eisenbahn fahren. Das steigerte unsere Sehnsucht nach Heimkehr. Damals wuβte ich noch nicht, daβ es eine Heimkehr ins Haus am Schlenzberg nie mehr geben werde. Als aber andere Arbeitsbrigaden tatsächlich Heimkehrerzüge mit offenen Waggontüren über die Brücke westwärts fahren sahen, da schlug unsere Hoffnung Purzelbäume, und viele glaubten, doch noch zu Weihnachten zu Hause zu sein.

Es war Ende November, als unsere Brigade mit Schlitten versehen zum Bahnhof geführt wurde. Auf einem Abstellgleis stand ein einzelner Viehwaggon. Unsere Bewachung öffnete eine der Türen. Zunächst sahen wir nichts, da sich unsere Augen noch nicht an das Dunkel gewöhnt hatten. Dann aber kroch etwas Schwarzes hervor ins einfallende Licht. Zuerst erkannten wir das Weiβe in den Augen eines zu verenden drohenden Tieres. Aber, was da auf allen Vieren mühsam herauskroch, war ein Mensch, besser ein gewesener Mensch: zu schwach, um sich sauber zu halten, verdreckt und voller Kot, was an ihm lebte, waren Scharen von Läusen. Dieses Wrack war der Herold einer ganzen Truppe menschlichen Abfalls. Wir hoben die Schwerkranken wie zerbrechliches Glas von den Pritschen. Wer zusammenbrach, wurde auf einen Schlitten gelegt, wer noch mühsam stehen konnte, wurde von zweien unserer Männer gestützt. So setzte sich der Trauerzug langsam zum Lager in Bewegung. Dann kehrte unsere Schlittenmannschaft zum Bahnhof zurück. Erst nach Öffnen eines Feuerwehrschuppens erkannten wir unsere traurige Aufgabe. Zehn, zwölf oder mehr Tote lagen hier nackt und wüst durcheinandergeworfen. Nur zwei trugen noch das kurze Russenhemd, weil die Totenstarre die Hergabe verweigert hatte. Trotz des Frostes liefen die aufgeschreckten Läuse wegen des Nahrungsverlustes auf den Hemden ziellos umher. Fünf Tote hätten wir aufladen können, aber zehn, zwölf? "Dawaj, dawaj !" drängen die Posten. Wir bauen einen Turm Toter. Seile, Stricke? Selbst der überall vorhandene Stacheldraht fehlt. Mit unseren Händen halten wir die nackten Körper zusammen.... Auβerhalb des Dorfes erreichen wir einen Waldrand, an dem noch seit der letzten Fleckfieberepedemie ausgehobene, tiefe, groβe Gruben liegen. Unsere "Heimkehrer" finden in einer Platz. Da alles steinhart gefroren ist, wir kein Werkzeug haben, können wir die Toten nicht einmal mit Erde bedecken. "Dawaj, dawaj !"

Doch das Schlimmste lag noch vor uns. Wir muβten wie die Kranken in der Lagerbanja entlaust werden. Zu unserem Erstaunen saβen die Kranken vom Nachmittag und ihre Begleiter immer noch da. Fehlte das Holz, war es zu naβ, daβ die Entlausungskammer nicht die notwendige Temperatur erreichte ? Was in einer Dreiviertelstunde vorbei sein konnte, dauerte den ganzen Abend und eine ganze, lange Nacht. Hätte nicht wenigstens ein Pott des Abendessens hereingereicht, ein Arzt nach den Kranken schauen können ? Wir hatten alle Kleider in die Entlausungskammer gehängt und uns mit lauwarmen Wasser gewaschen. Schon das Trocknen an der Luft ohne Handtücher entzog uns die letzte Körperwärme, und so froren wir uns durch eine lange, lange Nacht. Unter den Kranken waren zwei Zwillingsbrüder, 15 Jahre alt. Sie waren in Ostpreuβen mit ihrem Vater vom Felde weggeholt und als Arbeitskontingent nach Novo-Sibirsk gebracht worden, wo ihr Vater starb. Das Elend dieser Nacht werde ich nie vergessen. - Der gröβere Teil der Kranken starb, bevor noch der Morgen anbrach. Nach diesem Drama begruben wir unsere Hoffnung auf Heimkehr......

Kein anderes Weihnachtsfest drückte uns so fest in die Trostlosigkeit und Verzweiflung wie das des Jahres 1945....Dann kroch alles auf die harten Holzpritschen, keiner sagte ein Wort, und niemand stimmte "Stille Nacht, heilige Nacht" an, wie es immer so schön in Kriegserzählungen glauben gemacht wird. Dagegen zog mancher Mantel oder Wattejacke über den Kopf, daβ niemand die Tränen rollen sieht.... Trotz aller Finsternis leuchtete auch uns für wenige Sekunden ein Licht wie ein aufflammendes Streichholz, das gleich wieder im Winterwald verlischt: War es am Heiligen Abend oder am ersten Feiertag? Wir marschierten in Fünferkolonne die Straβe vom Furnierwerk zum Lager hoch, die Dunkelheit legte sich über den Schnee. Allmählich überholten wir eine Frau, die am rechten Straβenrand in gleicher Richtung ging. Nachdem sie sich umgeblickt hatte und sicher war, daβ die Bewachung ihr Vorhaben nicht sehen konnte, griff sie in eine Tragetasche und reichte unserem Flügelmann ein "Stalinplätzchen", ein pfeffernuβähnliches Gebäckstück, eine nicht alltägliche Kostbarkeit selbst für die Zivilbevölkerung. Unser Mann hätte das Geschenk mit einem Biβ verzehren können, und wir hätten uns darüber nicht aufgeregt, denn in der Gefangenschaft war allzu oft an die Stelle der Kameradschaft blanke Selbstsucht getreten. Doch er brockte nur ein Teilchen für sich ab und reichte das Plätzchen wie eine Hostie an uns vier weiter. Niemand ist davon satt geworden, der süβe Hauch auf unserer Zunge war bald verflogen. Doch jeder von uns war von tiefer Dankbarkeit gegenüber dieser Frau erfüllt, die nicht den Feind in uns sah, sondern uneigennützige Liebe verschenkte. Vielleicht vermiβte sie ihren Mann, ihren Sohn, der in gleicher Lage sein könnte wie wir.

Für mich ging der Krieg erst am 2. Januar 1950 zu Ende, und das war nach dramatischen Tagen der Ausweglosigkeit im Dezember 1949 noch ein unvermuteter, glücklicher Zufall!

 

 

 

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MAFFERSDORF - Marktgemeinde im Landkreis Reichenberg - SUDETENLAND