Gertrud Appelt - Kriegsende in Maffersdorf

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KRIEGSENDE IN MAFFERSDORF
(Sommer 1945)

Wir ahnten noch nichts von unserem Weg und Schicksal
Bericht von Gertrud Appelt, Schlenzberg
(1915 - 1988)

 

Es war ein schöner, blühender Mai von Anfang bis Ende. Wir hatten schon die zweite Einquartierung schlesischer Kriegsflüchtlinge. Sie waren mit eigenem Pferd und mit dem polnischen Kutscher im Winter mit dem Treck über das Riesengebirge gekommen, eine Frau mit zwei Mädchen und der Groβmutter Urbanske. Während die erste Familie mit einem Sammeltransport bis Braunau am Inn und dort in ein Massenquartier kam, erlebte die zweite Familie das Kriegsende bei uns. Von Heimweh gepackt, wollten sie nur nach Hause. Sie waren zuversichtlich, mit dem polnischen Kutscher und anderen Dorfbewohnern gut zurückzukommen. Sie wollten daheim noch die Kartoffeln setzen, die sie unter dem Mist vergraben hatten. Wir gingen mit zum Marktplatz, wo sich das kleine Völkchen versammelte, und fuhren ihre Sachen dorthin. Sie bekamen ihre Pferde und Wagen wieder. Dann war es ein Abschied für immer. Wie mag es ihnen ergangen sein?

Wir selbst ahnten damals noch nichts von unserem Schicksal und Weg ins Ungewisse. Als die Russen im Anmarsch waren, hängten wir alle weiβe Bettücher als Fahnen zum Zeichen der Ergebung hinaus. Die Sieger machten ihren Weg durch Bomben frei. So sah unser Vater von oben im Haus, wie Bomben in der Nähe des Reichenberger Flugplatzes abgeworfen wurden. Das war unweit der Kranichschule, wo Berthold wohnte. Berthold war der älteste meiner Brüder und durch seine dritte schwere Verwundung 1942 unterschenkelamputiert, deshalb war er aus der Wehrmacht entlassen worden, hatte geheiratet und war Lehrer an der Maffersdorfer Bürgerschule. "Ich muβ zum Jungen sehen, was dort los ist," sagte der Vater. In der Nähe des Reichenberger Bahnhofs untersuchten schon russische Soldaten die Leute nach Uhren. Vater hatte keine und kam ungeschoren durch. Als er in die Nähe des Doppelhauses kam, sah er, daβ dessen eine Hälfte fehlte und zwei tote Frauen im Garten lagen. Etwa 80 Tote soll es damals in der Stadt gegeben haben, obwohl es keine direkte Kriegseinwirkung war. Über die Felder, auf einem groβen Umweg, die Gefährlichkeit der Stadt meidend, kehrte Vater heim, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daβ Berthold mit Frau und Kind noch einmal davongekommen war.

Ich wurde um Butter, Milch und andere Lebensmittel in den Ort geschickt. Als ich noch am halben Schlenzberg war, kamen die "Nähmaschinen" und schon krachte es. Unten angekommen, sah ich, daβ die Kirchentreppe kaputt und das Dach beschädigt war. Der Schule waren die zwei hinteren Flügel aufgerissen worden. Offensichtlich hatten die Bomben der Ginzkey-Fabrik gegolten. Die Arbeit ruhte nun für die nächsten vier Wochen. Die Bevölkerung sollte in den Häusern bleiben. Den ersten russischen Soldaten sah ich eines Morgens früh um 5 Uhr, als er vor unserem Haus eine Leitung legte. Mir stand das Herz fast still vor Schreck und Angst! Doch er kam nicht ins Haus. Unten im Ort an der Hauptstraβe aber war es schlimm. Frauen flüchteten mit Federbetten in die Häuser am oberen Schlenzberg. Dr. Knobloch sagte dann: "Die Russen haben ganze Arbeit geleistet!" Er hatte alle Hände voll zu tun. Das war aber erst die Vorhut gewesen.

Als ich eine Stunde vor Einmarsch der Russen noch schnell Butter in der Milchhalle holte, sah ich Niklas, einen alten Hofarbeiter bei Ginzkey. Er war als kriegsgefangener Russe nach dem 1. Weltkrieg hier geblieben. Jetzt führte er eine Kolonne an. Eine Stunde später war er Bürgermeister. Die Mutter vom Glaser Siegfried lag noch als Leiche im eigenen Haus, als dort der neue Bürgermeister einzog. Er wartete nicht einmal, bis die Frau begraben war. Aber die Freude dauerte nur etwa vier Wochen, dann wurde er verschleppt, man hörte nie wieder von ihm. Bei Schnaps-Hauser lieβ man den Wein durch Schläuche hinten in den Mühlgraben flieβen, damit er weniger wurde, und nicht so viel Unheil geschehen konnte. Es waren schlimme Tage.

Nach einigen Wochen fing die Arbeit ganz langsam an. Nun übernahmen die Tschechen das Regiment. Die Reichsmark muβte auf tschechische Währung umgestellt werden. Niemand von den alten deutschen Leuten bekam eine Rente. Nur wenn ein Sparbuch da war, konnten monatlich 100 Kc vom Guthaben abgehoben werden. Dann begann der Kampf um die Häuser. Die Tschechen kamen in Scharen aus dem Inneren des Landes, es waren vorwiegend Landarbeiter ohne Besitz. Sie konnten sich ein Haus aussuchen, das ihnen gefiel. Auf dem národny vybor (Gemeindeamt) bekamen sie es dann zugewiesen, und mit diesem Blatt Papier konnten sie jeden aus seinem Eigentum jagen. Die "Räumung" besorgten dann meistens junge Milizsoldaten oder irgendwelche Gruppen junger Fanatiker. Wehe dem, der sich wehrte. Vater hängte den Facharbeiterausweis, den Mutter als Knüpferin bei Ginzkey erhalten hatte, an die Haustür. Das half einige Zeit, die Fremden gingen weiter. Doch eines Tages kam der Knobloch-Biehme, der als tschechischer Eisenbahner seit 1918 ein halbes Haus in den Lobelbirken besaβ. Er hatte uns öfters vom Feld heimkommen sehen und rechnete sich aus, daβ zu unserem Haus auch noch Äcker gehören. Seine Tochter hatte man in jenen Tagen in Prag davongejagt, weil sie einen deutschen Soldaten geheiratet hatte. So konnte sie mit ihren kleinen Kindern nichts fordern, deshalb gab ihr der Vater sein Haus in den Lobelbirken und nahm sich unser Haus. Ein Kind sahen wir später mit Helmuts Mantel herumlaufen. Binnen zwei Stunden muβten wir unser Haus verlassen. Zwar sagte unser Vater den Milizsoldaten, daβ das nicht möglich sei, weil alle auβer ihm zur Arbeit weg seien, aber die Antwort war: "Wenn Sie nicht in zwei Stunden aus dem Haus sind, kommen Sie sofort ins Lager!" In Eile sind wir dann beim Beutel-Fleischer unten an der Neiβebrücke in eine kleine Dachwohnung eingewiesen worden. Familie Pekarsch-Jung mit Tonl und Lina Hübner, die vorher schon bei uns Zuflucht gesucht hatten, muβten jetzt mit uns gehen. So hausten wir drei Familien in einer Wohnung, trotzdem herrschte ein sehr gutes Verhältnis.

Der Knobloch-Biehme hatte unserer Mutter nachträglich noch erlaubt, einige Sachen aus unserem Haus zu holen. Er hatte die Zeichnungen meiner drei Brüder gefunden und gefragt, wo sie wären. Als Mutter sagte, daβ einer in Stalingrad wäre und wir nichts von ihm wüβten, da meinte er: "Wie kann man sich nur für so etwas hingeben!" War er der Meinung, oder tat er nur so, als ob alle freiwillig in den Krieg gezogen wären?

Berthold war bei Ginzkey in der Axminster als Teppichweber eingestellt worden, weil es keine deutsche Schule mehr gab. Er hauste die Woche über bei unserer Nachbarin Emilie Appelt, mit ihr und den Hühnern in einem einzigen Raum, der vorher Wollmagazin von Ober-Schlenz war. Emilie war eine seelensgute Frau, konnte aber nur ein Bett mit Brettern und Heu anbieten.

Helmut war am 10.9.1944 zum Arbeitsdienst nach Polen eingezogen worden und muβte deshalb sein Studium an der Lehrerbildungsanstalt in Reichenberg abbrechen. Einen Monat vor Kriegsschluβ war er in Neustadt an der Dosse (Mecklenburg) bei einer Funker- und Fernmeldeausbildung der Luftwaffe. Daβ er dann nach einer wahren Odyssee durch englische und amerikanische Gefangenschaft und Flucht im Lazarett Adenstett landete, wo er zwar als Patient geführt wurde, aber als Küchenhilfe arbeitete, erfuhren wir erst später. Von dort aus begann er die Suche nach uns und hatte Erfolg. Nach Musterung und Aufnahmeprüfung für den Polizeidienst kam er nach Höchst im Odenwald.

In dieser Zeit aber trugen wir in Maffersdorf als Deutsche weiβe Armbinden. Die in Arbeit standen, hatten eine mit dem Stempel des Arbeitsamtes, die anderen waren Freiwild und konnten überall eingesetzt werden. Die Antifaschisten konnten damals schon mit einem ganzen Waggon Eigentum umgesiedelt werden, aber die allgemeine Vertreibung sah anders aus. Ganze Straβenzüge wurden im Spätsommer und in den Herbstwochen 1945 über Nacht geräumt. Die Leute muβten zuerst ins Lager Habendorf, dann ging es, oft der letzten Habe beraubt, über die Grenze nach Sachsen, wo sie ihrem Schicksal überlassen blieben. Viele sind auf den Straβen gestorben. Man weiβ gar nicht, was es da an Leid gab!

Mit dem ersten "humanen Transport" - die westlichen Siegermächte hatten den wilden Vertreibungen Einhalt geboten - waren wir an der Reihe. Mutter hätte als Facharbeiterin noch lange in Maffersdorf bleiben müssen, weil aber am Samstag, dem 2. Februar, nicht gearbeitet wurde, ging sie mit uns mit. Was Berthold zum Transport aufgab, sah er nie wieder. Nur mit Frau, Kind und Kinderwagen und sonst nichts überstand er die abenteuerliche Reise, die für uns in Höchst bei unserem Bruder endete.

Viele haben noch weit mehr mitgemacht.

 

 

 

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MAFFERSDORF - Marktgemeinde im Landkreis Reichenberg - SUDETENLAND