CARL
WAGNER
( 1851 –
1929 )
Erinnerungen
aus meiner Jugendzeit
aus seinem
Nachlaß
Ein wichtiges
Ereignis meiner Kinderzeit war das Hochwasser vom 1. zum 2.
August 1858; es hatte schon vorher mehrere Tage unablässig
geregnet. Mein Onkel Josef Wagner kam am 1. August in der
Dämmerung zu meinen Eltern auf Besuch, konnte aber wegen des
inzwischen sehr hoch gewordenen Hochwassers, welches das Haus
rings umschwemmte, nicht nach Hause gehen. Nach 3 Uhr morgens
wurde der Zustand so bedenklich, da β
mein Vater mit dem Gewehr Notschüsse abgab. Die Nachbarn
gewannen den Bauern Anton Staatz, daβ er vom Sieberhause
mit den Pferden zu uns reite, um uns aus dem bedrohten Hause
herauszuholen. Die Pferde versagten, gingen nicht ins Wasser.
Die Wassermengen lieβen gegen 6 Uhr etwas nach. Nachbar
Sieber kam aus der Richtung von der Fabrik zu uns, nahm mich
auf den Rücken, mein kleiner Bruder wurde in einem Tragkorbe
von Onkel Josef getragen, und so ging es ganz gegen den
Wasserstrom über die Sieberwiese heraus. Mein Groβvater
lief mit Onkel Ignaz am oberen Wege sorgenvoll auf und ab,
ohne Hilfe bringen zu können. Wir wurden beim Groβvater
einlogiert und schliefen in der Stube. Mein Groβvater war
mir sehr gewogen, so oft ich ihn besuchte, holte er aus
seinem Wandschränkl ein Butterhörnl und schenkte es mir.
In meinem
schulpflichtigen Alter trat ich in die Schule ein. Diese
befand sich in dem Hause, welches jetzt dem Bäckermeister
Möller gehört. Alle sechs Jahrgänge waren in einem
Schulzimmer unter dem vorzüglichen Lehrer Herrn Anton Adolf
Appelt vereint. Dieser ausgezeichnete Lehrer zeigte und lehrte
uns im Laufe der Jahre gar vieles, womit sich Lehrer in
anderen Schulen nicht befassen, und so hatte die Proschwitzer
Schule den Ruf, eine der besten zu sein. Das Schhulzimmer war
so überfüllt, da β
der Lehrer im Hochsommer im Dachraume einige Bänke
aufstellte und mir die Aufgabe stellte, eine Anzahl Kinder im
Lesen zu unterrichten. Die Gemeinden Proschwitz und
Maffersdorf hatten die Not der überfüllten Schulklassen
längst eingesehen, und es wurden neue Schulgebäude
errichtet. Beide Schulen wurden an einem Tage kirchlich
geweiht. Ich hatte die Danksagung an alle, welche zum Baue
beigetragen, zu sagen.
Als sehr
angenehme Erinnerung bleibt auch die öffentliche
Nikolausfeier im Gasthaus "Zum Goldenen Stern" in
Maffersdorf durch den Herrn Oberlehrer Appelt. August Möllers
Tochter Anna hatte das brave Mädchen zu spielen und wurde vom
Nikolaus (Lehrer Appelt) reichlich beschenkt. Ich mu βte
den bösen
Buben spielen, der einen frommen Spruch nicht wissen durfte,
und bekam die vorgesehene Prügelstrafe. Trotzdem mir Lehrer
Appelt auch eine Menge schöner Äpfel und Nüsse für meine
gute Ausführung zusteckte, war mir das Weinen sehr nahe, weil
ich eine böse Rolle gespielt hatte. Als Honoratioren waren
anwesend Herr Alois Herzig mit Frau aus Neuwald und Herr Ignaz
Ginzkey mit Frau aus Maffersdorf.
Nach
vollendeter Schulpflicht brachte mich mein Vater nach
Rozdalovic, damit ich die zweite Landessprache erlernen
möchte, wie das so üblich war. Ich war bei dem kinderlosen
Ehepaar Vanicek untergebracht. Herr Vanicek war
Bäckermeister. Dieses Jahr gehört zu meinen schönsten
Jugendjahren. Ich besuchte die sog. höhere 4. Klasse, welche
im Rathaus untergebracht war. Der Lehrer Symon legte gro βen
Wert auf den Sprachunterricht, was mir und den anderen
deutschen Jungen sehr zustatten kam. Herr Vanicek war einer
der beliebtesten und angesehensten Bürger der Stadt. Einmal
lud er zu einem Schweineschlachtfeste den Dechanten,
Postmeister, Rentmeister, Bürgermeister, Stadtsekretär,
Lehrer Symon und den Arzt zu Gaste. Das Mahl war vorzüglich,
Frau Vanicek war eine erstklassige Köchin. Das Schwein war im
Nu verzehrt, und als man am nächsten Tage die Nachbarn, um
einem dortigen Brauche nachzukommen, mit Fleisch und Wurst
beschenken wollte, muβte man ein zweites Schwein
abstechen.
Als ich von
Rozdalovic, diesem kleinen Landstädtchen, nach Hause kam,
erschien mir hier im Gebirge alles zu eng und zu klein. Nun
hie β
es sich vorzubereiten auf den Besuch der Realschule in
Reichenberg. Zwei Jahre später besuchte ich die Reichenberger
Handelsschule. Ich verehrte Prof. Dr. Halwich als einen
Professor, der seinen Lehrstoff groβartig vortrug. Ganz
besonders waren Handelsgeographie und Handelsgeschichte dieser
Fachschule angepaβt. Trotz meiner groβen Wertschätzung
für diesen Schulmann gehörte ich nicht zu seinen Lieblingen.
Unterrichtete er und ich schaute ihn an, so rief er:
"Wagner, was glotzen Sie mich an?" Sah ich etwas
rechts oder links, um nicht zu glotzen, dann rief er:
"Wagner, Sie passen nicht auf!" Hätten mich alle
Professoren so behandelt, ich wäre verzweifelt. Doch darin
kam eine Änderung. Während des zweiten Jahrganges wurde
Halwich als Sekretär in die Handelskammer berufen, und an
seine Stelle kam Professor Werner, der nur ein Schatten von
Halwich war. Direktor Theodor Böhme fürchtete sich sehr vor
Gewittern; zog ein solches während des Unterrichts auf, so
verschwand er aus dem Schulzimmer, lief in sein Wohnzimmer,
kniete niedr und betete. Wir hatten während dieser Zeit frei.
Der ernsteste Professor an der Handelsschule war Professor
Rohn, ein gebürtiger Reichenberger. Er unterrichtete in
kaufmännischem Rechnen und Buchhaltung.
Die mir
zugedachten Schuljahre waren beendet, und meine Eltern
wünschten, da β
ich noch auswärts eine weitere Fortbildung genieβe. Ich
kam nach Brünn in das Tuchhandlungshaus Eckler & Bruder
in der Fröhlicher Gasse als Volontär. Der Dienst war sehr
anstrengend. Doch wurde mir die Freude zuteil, ohne darum
gebeten zu haben, nach kurzer Zeit ein Honorar zu beziehen; es
war dies eine Seltenheit in damaliger Zeit. Am 6. Feber 1872
erlag mein Vater während des Schlafes einem Schlaganfall, und
meine Absicht, mich noch weiter in der Welt auszubilden, war
abgeschnitten. Mein Vater hatte mich etwa 4 Wochen vor seinem
Ableben groβjährig
erklärt. Das Geschäft wurde von meiner Mutter, welche den
Absatz der Garne besorgte, und mir weitergeführt und die
Firma Carl Wagner & Comp. protokolliert.
Ich füge noch
hinzu: Die Firma Carl Wagner hatte es mit ihrem jungen Chef
neben der Firma Ignaz Ginzkey als Konkurrenz sehr schwer
hochzukommen, aber Carl Wagner und seine Nachfolger haben es
geschafft, sich Kunden, Absatzmärkte und Ansehen zu erwerben.
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