ANTON
APPELT
( 1882 - 1954 )
Recycling
vor 70 Jahren in Maffersdorf aktuell
Albrecht und
Berthold Appelt
Heute ist der
3. April, drau βen
schneit es und ein eisiger Ostwind fegt über das noch hart
gefrorene Land. Die Menschen auf der Straβe frieren, und
jammernd erwarten sie sonnigwarme Ostertage. Das gab es auch
damals vor 70 Jahren schon in der alten Heimat im Neiβetale,
eher öfter
und härter im rauheren Jeschken-Isergebirgsklima. Weil es
noch keine ärztliche Grippevorsorge gab und Dr. Molitor nur
mit dem Messerchen gegen Pocken impfte, waren wir Kinder vom
Hort bis zur "Bürger"-Schule auf den gut
überlieferten Sachverstand der Mütter, den Intellekt der
Väter, den immer warmen Koksofen mit dem Kräuterteetopf
angewiesen und natürlich auf die
Tuchschuhe.
Freilich,
wollene Stubenschuhe oder gewalkte Filzpoatschn gab es schon
in vielen Heimatlandschaften, aber keine Tuchschuhe. Der
Tuchschuh bildete in der Zeit des 1. Weltkrieges, in der gro βen
Wirtschaftskrise der Endzwanziger und infolge der
erdrückenden Konkurrenz des ersten Schuhgroβindustriellen,
Bata, die alternative Arbeitsnische für
unseren Vater. Und das kam so:
Als Jüngster
von sieben Geschwistern einer Häuslerfamilie ging er nach
Zittau, um dort das Schusterhandwerk zu erlernen. Die
Wanderschaft führte ihn bis nach Apolda in Thüringen. Dort
erreichte ihn die österreichische Militärkommission , und so
ging es zurück nach Böhmen und zum Militärdienst. Nach
seiner Entlassung fand er Arbeit als Textilarbeiter bei der k.
k. priv. Webwarenfabrik von Franz Liebieg in Dörfel. Auch
seine Schwestern waren Tuch-, Feinzeug- und Jaquardweberinnen
in Fabriken um Reichenberg geworden. Am Wegweiser zum
Kaiserstein auf dem Schlenzberge kreuzte seinen Weg eine
Handknüpferin aus dem Wurzelloche beim täglichen Gang zu
Ginzkey, Kamilla Wundrak. Am 4. Mai 1914 heirateten sie in der
Maffersdorfer Kirche. Der jungen Familie blühte aber wenig
Glück: Drei Monate später brach der 1. Weltkrieg aus,
Rationierung der Lebensmittel, Feierschichten und Streiks bei
Ginzkey und Liebieg, sozialistische Aufstände, Konkurse und
schlie βlich
für Vater die Arbeitslosigkeit. Jetzt bewährten sich seine
Wendigkeit und die vielfältigen Erfahrungen. Im Hause Nr.712
am Schlenzberge wurde die verwaiste Schusterbank wieder
aufgestellt. Sie hatte in der Ecke gestanden, seit Bata diesem
Handwerk durch seine Billigangebote in Reichenberg den
Todesstoβ versetzt hatte. Aus Militärröcken,
ausgedienten Mänteln, Tuchresten, durchgescheuerten
Transmissionsriemen und anderen Abfällen zauberte Vater -
zunächst für uns Kinder - feste Tuchschuhe, keine Schlappen,
nein, richtige Tuchschuhe, in denen wir von Allerheiligen bis
Ostern anstandslos in die Schule und in die Kirche gehen
konnten.
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Diese
Schuhe gefielen den Nachbarn und Bekannten, und so kam
es, daβ
unser Vater, besonders als auch die Bezugscheine immer
rarer wurden, oft aufgesucht und flehentlich gebeten
wurde, aus den mitgebrachten Stoffresten, zu klein
gewordenen Jacken und Kindermänteln solche Tuchschuhe
zu machen. Das bedeutete mühselige Einzelanfertigung.
Nach dem Maβnehmen muβten die |
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2-3
cm dicken Sohlen Lage um Lage mit Mehlpappe versehen,
gepreβt und ganz dicht mit Holznägeln gestiftelt
werden. Die Oberteile wurden aufgezeichnet,
zugeschnitten, eingefaβt und gefüttert. Dann
bekamen sie noch Lederkappen, Rutschband und Afterleder
auf der alten Neumann-Nähmaschine aufgesteppt; auch
Schnallen und Ösen durften nicht fehlen. |
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Das
zusammengenähte Oberteil, auf den vorbereiteten und
mit der Brandsohle belegten Leisten
"geheftet" und mit der Falzzange gespannt,
erhielt jetzt das lederne Rahmenband. Mit viele Meter
langem Schusterdraht (= 8faches, gepichtes Hanfgarn
mit an den Enden eingeflochtenen Schweinsborsten)
begann eine Sisyphusarbeit, das Durchnähen der dicken
Tuchsohle an das Rahmenband. Hernach erst konnte die
Sohle beschnitten und der Leisten herausgezogen
werden. Der Schnittrand der Sohle muβte noch dick
gepicht werden, um das Eindringen von Wasser zu
verhindern. So gelangte dann der Träger auch bei
Regen und Tauwetter sicher trockenen Fuβes nach
Hause. |
Vielen
Maffersdorfern konnte mein Vater auf diese Weise in schweren
Zeiten helfen. In den Kriegsmonaten brachte auch die Schwester
unseres Herrn Dechanten einen abgeschabten Gehrock mit der
Bitte, dem "Herrn" ein Paar solcher warmer
Tuchschuhe zum Beichtsitzen zu fertigen. Dechant Bichler und
seine Schwester bekamen die Tuchschuhe. Hoffentlich konnten
sie sie durch das Lager in Habendorf schleusen. Dort hinter
Reichenberg endete ja nicht nur unsere Tuchschuhgeschichte,
sondern auch die Schlenzberg - Wurzelloch - Familiensaga mit
all den Kindheitsträumen von der Rauschmühle, dem Fuchsberg
und Kaiserstein, den Jugenderlebnissen in Schule, Feld und
Wald und den Erinnerungen an die vielen jungen und alten
Menschen, die uns mochten.
Ein
schmerzliches, ein jähes, bitteres Ende, bis nach Jahr und
Tag sich die Familie wieder zusammenfand im Odenwald, vier
Geschwister und die Eltern.
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