Anton Skolaude - Der lange Weg ins Ungewisse

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KRIEGSENDE IN MAFFERSDORF
(Sommer 1945 )

Der lange Weg ins Ungewisse
Tagebuchaufzeichnungen von Anton Skolaude
(* 1931)

 

 

Die Familie Skolaude war seit dem 30jährigen Krieg, also mehr als 300 Jahre in Maffersdorf ansässig. Durch viele Generationen bewirtschafteten sie das Anwesen Nr. 500 als angesehene, fortschrittliche und erfolgreiche Landwirte.

 

Freitag, 13. Juli

Am Nachmittag haben wir den Stall fertig gekalkt, also frisch geweiβt. Gegen Abend wurde noch ein Stück Wiese gemäht, gefüttert und gemolken. Es wurde dunkel dabei. Überall spürte man eine eigenartige Unruhe und Unsicherheit machte sich breit. Seit Tagen werden Deutsche aus ihren Häusern geholt und in verschiedene Richtungen abgeschoben. Der Tscheche Materna, der sich vor ein paar Tagen in unser Haus einquartiert hat, kommt nicht zurück. Gegen 22.30 Uhr wurde Anton Möller (Neubauer Nr. 494) mit seiner Familie von Tschechen abgeholt. Wir bleiben lange wach, schlieβlich gehen wir zu Bett.

 

Samstag, 14. Juli

Gegen 2 Uhr in der Nacht werden wir aus dem Schlaf gerissen und erhalten den Bescheid, daβ wir uns um 4 Uhr mit Handgepäck in der Linkser Turnhalle einzufinden haben. Keine halbe Stunde später holen uns 4 tschechische Zivilpolizisten mit Pistolen aus dem Hause. Sowie wir ein Zimmer verlassen, wird es verschlossen oder von einem Tschechen verstellt. An ein Zusammenpacken ist nicht mehr zu denken. In der Eile werden einige Habseligkeiten zusammengepackt, die gerade in der Küche liegen und am unwichtigsten sind. Meiner Schwester Maria, 8 Jahre alt, wird die Puppe weggenommen, ich bekomme Schläge, weil ich mir eine Adresse aus Cottbus mit der Adolf-Hitler-Straβe einsteckte. Wir (Vater, Mutter, meine Schwester, unsere Groβmutter und ich) wurden unter gezogenen Waffen in die Turnhalle getrieben. Die Groβmutter ist nachts weggelaufen und kam in den Vormittagsstunden mit dem Milchwagl wieder, einem selbstgebauten Fahrzeug aus Rädern eines Fahrrades, mit dem sie vor der Pflichtablieferung die Milch und Milchprodukte zu den Kunden ins Dorf gefahren hatte. In dem Wagl brachte sie uns einige Anziehsachen und Decken, teils aus unserem Haus, teils von Onkel Alfred. Sie verlieβ uns dann wieder und ging zu Onkel Alfred. Wir haben sie erst Jahre später noch einmal wiedergesehen.

In der Turnhalle trafen wir u.a. folgende Familien:

Möller Anton (Neubauer Nr.494), Nöhrig Anton (Bauer Nr.58), Jentsch Emil, Nöhrig Antonie (Bäuerin, Wurzelloch Nr.484, Schmitzer Ernst (Bauer Nr.4), Hübner Ferdi (Bauer), Hübner Franz (Bauer), Hübner Otto (Bauer), Preisler Richard (Tischler, Neurode), Hoyer Emil (Papierhändler Nr.520), Walter Richard (Bauer, Neudorf Nr.593), Hauser Emilie, Funke Julie, Piller-Rasierer, Stärz Franz (Arbeiter Nr.93 am Tandlerteich), Hentschel (Bäcker), Hiebel (Kohlenhändler Neurode Nr. 175), Pilz Rudolf (Bauer Nr.464 beim Sauerbrunn).... Wir wurden den ganzen Tag festgehalten, registriert, vernommen und zermürbt. Am späten Nachmittag muβten wir zu Fuβ nach Reichenberg ins Konzentrationslager im Messegelände gehen. Lange Durchsuchungen nach Schmuck, Geld und Wertsachen. Gegen Mitternacht zieht im Lager und in den Baracken Ruhe ein.

 

Sonntag, 15. Juli

Der Tag beginnt mit Wecken, Appell, Reinigen, Antreten, Abzählen ...

Das Lager ist überfüllt mit Deutschen. Es werden verschiedene Transporte zusammengestellt, nach Brüx in die Kohlengruben, ins Landesinnnere und nach Zittau / Deutschland. Ich wechselte verschiedentlich die Seiten; der Gröβe nach wurde ich zu Brüx gesteckt, nach dem Alter (14 Jahre) nach Deutschland, dort blieb ich schlieβlich. Noch einmal werden alle Sachen kontrolliert, obwohl wir fast nichts mehr haben. Abends Abmarsch zum Reichenberger Bahnhof. Wir werden in offene Viehwaggons verladen, wir sind so zusammengepfercht, daβ immer nur wenige einen Sitzplatz zwischen den Beinen der anderen haben. Um Mitternacht gibt es einen mehrstündigen Aufenthalt in Grottau. Keiner darf den Waggon verlassen. Der Zug wird von einer Wachmannschaft begleitet.

 

Montag, 16. Juli

In den Morgenstunden setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Als wir die Grenze nach Sachsen überfahren, verschwinden die Wachen. Es geht weiter über Hainewalde - Groβschönau - Warnsdorf - Seifhennersdorf - Leutersdorf - Eibau - Neugersdorf - Ebersbach - Neusalza / Spremberg - Taubenheim bis vor Sohland. An den Menschen in diesen Ortschaften fiel uns auf, daβ sie keine weiβen Armbinden trugen. Erst langsam kam uns zum Bewuβtsein, daβ wir nun in einem anderen Land waren. Als der Zug in einer Wiese stehen blieb, hieβ es: "Aussteigen! Jeder kümmert sich um sich selbst!" Im Chaos auf der Wiese tauchten plötzlich Maffersdorfer auf, die Tage zuvor hier abgesetzt worden waren: Hauser Willy, Schlenz Tonl, Tandler Willy, Neumann Franz. Die ersteren besorgten uns im Gasthaus "Zum Goldenen Apfel" beim Gastwirt Max Böhm in der Zittauer Straβe ein Quartier. Es war der Gemeindesaal mit trockenem Fuβboden und ohne Mobiliar. Es bestand ein Aufenthaltsverbot. Man durfte nur 24 Stunden an einem Ort bleiben. Aber wir, sowie die Familien Pilz Rudolf, Stärz Franz, Schmitzer und Möller versteckten uns vom 16. - 25. Juli in dieser Unterkunft.

 

17. - 24. Juli

Diese Tage brachten für alle Beteiligten Entwöhnungen und Entbehrungen. Die Väter zogen gleich am ersten Tag aus, um Möglichkeiten zu erkunden, wie es weiter gehen könnte.

Vater begab sich nach Kalau in der Lausitz, um die Cousine in Cottbus zu erreichen. Er kam am 19. ohne Geld, Uhr, Zigaretten, von den Russen ausgenommen, unverrichteter Dinge wieder zurück.

Pilz Rudolf sen. fuhr nach Zittau und kam am Abende ebenfalls unverrichteter Dinge, aber mit Kartoffeln zurück. Ein zweiter Versuch der beiden blieb auch ohne Erfolg.

Pilz Rudolf jun. war nach Thüringen, nach Weimar gefahren und kam am 23.7. zurück mit der Nachricht: "Wir machen nach Weimar, dort finden wir Arbeit und Unterkunft!"

In der Zeit, als wir in Sohland waren, kamen weitere Transporte aus Böhmen an: am 17.7. aus Hirschberg, am 19.7. aus Reichenberg und 2 Züge aus Leitmeritz, am 20.7. aus verschiedenen Richtungen. Insgesamt waren es an den drei Tagen 9000 Deutsche. Die Gegend war restlos übervölkert und belagert. Es waren viel mehr Flüchtlinge und Vertriebene da als die ganze Gegend Einwohner hatte.

Die Zeit verbrachten wir wie alle anderen mit Hausieren und Betteln, oder damit, Pilze zu suchen (die gab es reichlich), unreifes Getreide aus den Ähren zu reiben, bei den Bauern die ersten Kartoffeln zu roden und auf dem Feld Gurken und Karfiol (Blumenkohl) zu ernten, Pfefferminze, Kümmel und andere Kräuter zu sammeln. Für die wenigen mitgenommenen Mark gab es kaum etwas zu kaufen. Unser Geld und die Sparbücher hatten wir in der Nacht der Vertreibung nicht mehr mitnehmen können, da die Tschechen es nicht zulieβen. Den anderen war es bei den vielen Durchsuchungen weggenommen worden.

So organisierte jeder, und dann wurde zusammengelegt. Es gab täglich Karfiol-Areppl-Pilz-Kraut-Suppe mit wechselndem Anteil an Wasser. Am Sonntag kam vom Wirt, dem wir bei der Heuernte geholfen hatten, ein Huhn für die Suppe dazu, ein anderes hatte sich zu uns verlaufen. 18 Mäuler muβten gestopft werden.

Unser Handwagl diente nun zum Transport von Reisig, Zapfen und Klaubholz, welches wir in der Umgebung sammelten. Zum Glück lag auch manchmal eine kleine Fichte oder Kiefer am Wege. Der Ofen muβte rauchen.

 

Dienstag, 24. Juli

Wir beschlieβen, uns auf den Weg nach Thüringen zu machen. Die wenigen Habseligkeiten werden zusammengepackt. Bis zur Mitternacht waren alle in Aufregung.

 

Mittwoch, 25. Juli

Wir machen uns auf den Weg: Familie Skolaude (4 Personen), Familie Stärz (3), Familie Schnitzer (4) und Familie Pilz (4). Nach dem Frühstück ging es zu Fuβ zum Bahnhof nach Schirgiswalde. Obwohl kein Fahrplan Gültigkeit hatte, fuhren wir schon um 8.45 in Richtung Dresden, allerdings sind die Familien Schmitzer und Sterz in den Überfüllten Zug nicht mitgekommen. Wir trafen sie dann in Weimar wieder. Die Wagen waren bis auf den letzten Stehplatz, einschlieβlich Gepäcknetze, Puffer und Dächer besetzt. Es gab Aufenthalte, weil z.B. eine Lokomotive fehlte oder Wasser und Kohlen nachgefüllt werden muβten. Dann galt es wieder längere Strecken zu Fuβ zurückzulegen, weil Brücken gesprengt waren. Gegen 16 Uhr erreichten wir den Kohlenbahnhof in Dresden-Neustadt. Einen anderen gab es in dieser vom Bombenterror heimgesuchten, leidgeprüften Stadt nicht mehr. Zu Fuβ zog der lange Treck durch die Trümmerwüste der Stadt über die Elbe in Richtung Hauptbahnhof. In den Straβen war ein Fuβweg freigeräumt. Der Hauptbahnhof ein Trümmerfeld. Auskünfte und Fahrkarten gab es in ausgebombten, teils mit Brettern vernagelten Waggons. Kampiert wurde zwischen den Gleisen. Auf drei Ziegelsteinen wurden ein paar Kartoffeln und etwas Tee gekocht. Alles andere spielte sich in der gleichen Umgebung ab. Gegen Mitternacht sollte ein Zug in Richtung Chemnitz fahren. Die Strecke nach Leipzig war von nachrückenden Russen blockiert.

 

Donnerstag, 26. Juli

Irgendwann in der Nacht ging es mit einem Güterzug mit offenen und geschlossenen Waggons weiter. Mutter und Mariechen fanden in einem offenen Wagen gerade noch Platz, Vater und ich mit dem Wagl auf den Puffern zwischen zwei Güterwaggons. Freital - Tharandt - Freiberg - Öderan - Flöha. Morgens früh um 4 Uhr sind wir in Chemnitz. Um 7 Uhr weiter: Harthau - Stollberg - Zwönitz - Aue. Nach einem Aufenthalt weiter über Schlema - Hartenstein - Wilkau nach Zwickau. Hier ist vorerst Schluβ. Runter von den Wagen. Die wichtigsten Dinge, so gut es geht, erledigen. Die Weiterfahrt ist ungewiβ. Um 16 Uhr erwischten wir einen Personenzug nach Göβnitz. Nach zwei Stunden Fahrt umsteigen in Richtung Weimar, immer den vorrückenden Russen nach. Gegen 19 Uhr endete die Fahrt in Gera. Es gab kein Licht, und nichts bewegte sich mehr. In irgendeinem dunklen Flur im Bahnhofsareal haben wir übernachtet.

 

Freitag, 27. Juli

Nach Wachen und Schlafen ging es am Morgen gegen halb sieben weiter über Gera und Jena nach Weimar. So hatten wir nach zwei vollen Tagen unser Ziel erreicht. Die Familie Stärz hatten wir unterwegs wiedergetroffen. Schmitzers fehlten noch. Arbeitsamt - Vermittlung in die Umgebung: wir nach Ulla (westlich von Weimar), Stärz nach Buttelstedt (nördlich) und Pilz nach Oettern (südlich). Da trennten sich zunächst unsere Wege am Bahnhof in Weimar. Wiedergefunden haben wir dann später Familie Pilz in Gelmeroda, Familie Stärz in Mechelroda, Familie Schmitzer in Mannstadt, Familie Seidel (Tischler in Neurode), Frau Marie Preisler (Neurode) und Familie Keil (Uhrmacher in Reichenberg, Tochter von Schmidtgolix in Maffersdorf) in Weimar.

Wir fuhren mit der Berkaer Bahn nach Nohra und wanderten dann zu Fuβ nach Ulla. Die Familie Quendte, der wir zugewiesen waren, nahm uns nicht auf. Wir fragten weiter bei den Bauern Günther, Göbel u.a.; nirgends ein Unterkommen, immer weitergeschickt ... So liefen wir mit Sack und Pack nach Nohra zurück. Dort wies uns der Bürgermeister zum Bauern Thiele-Saalfeld ein, dem die Ostarbeiter davongelaufen waren. Da die Ernte vor der Tür stand konnten wir bleiben. Wir übernachteten auf dem Luzerneboden. Wir hatten ein Dach über dem Kopf, das für Jahre unsere Bleibe werden sollte.

 

Samstag, 28. Juli

Zwei Wochen Leben auf Straβe und Bahn haben ein Ende. Für Vater, Mutter und mich wurde das der erste Arbeitstag beim Bauer Thiele in Nohra Nr. 47. Er begann um 5 Uhr. An Arbeit gab es für Vater: Luzerne und Erbsen einfahren, für Mutter: Gerste abraffen und abladen, für mich: Erbsen und Luzerne abladen, früh und abends für uns alle die übliche Stallarbeit. Es gab wieder einen geregelten Tagesablauf und, was das Wichtigste war, satt zu essen. Abends erhielten wir im Wohnhaus die oberste Dachkammer.

 

Sonntag, 29. Juli

Wecken erst um 6 Uhr und nur Stallarbeit. Wir nutzten den Tag, um am nahegelegenen Fliegerhorst die Berge ausrangierten Mülls der Wehrmacht und der Amerikaner nach Kleidung, Gebrauchsgegenständen und nutzbarem Mobiliar zu durchsuchen. Es lohnte sich. Uniformen der Luftwaffe haben uns für lange Zeit gedient. Auch Geschirr aus dem Casino hat bis in die 70er Jahre Dienst getan. Der Sonntag mit einem Mittagessen von Thüringer Klöβen und Nachmittagskaffe mit Kuchen war ein wahrer Feiertag für die "Ost-Umsiedler", wie wir nun amtlich hieβen .

 

Bis zum 30. September arbeiteten wir für Kost und Logie, dann gab es monatlich 90 Mark für die Arbeit von Vater, Mutter und mir. Als gedungene Landarbeiterfamilie waren wir in allem vom Bauern abhängig.

 

 

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MAFFERSDORF - Marktgemeinde im Landkreis Reichenberg - SUDETENLAND