GRETE
HERKNER / KIRCHHOF
( 1900 – 1994 )
Man
braucht großes Gottvertrauen, um nicht zu verzweifeln.
aus Briefen
Nachdem ich
1989 die Heimatstelle übernommen hatte, besuchte ich im
Sommer 1990 die freundliche, fast zerbrechlich wirkende Frau
in ihrer kleinen Wohnung in Teterow. Mein Vater stand als
Ortsbetreuer seit 1980 mit ihr in brieflicher Verbindung, und
sie hatte jedes Jahr eines der Weihnachtspäckchen bekommen,
die aus den Spenden der Maffersdorfer zusammengestellt und an
alte und kranke Heimatfreunde in der DDR geschickt wurden. Ich
konnte es kaum glauben, da β
hier jemand wohnte, der fast blind und taub war und sich doch
seine Selbständigkeit
bewahrt hatte. Das Rätsel löste sich im Laufe unseres
Gespräches und aus den Briefen, die ich noch bekam. Leider
habe ich die Briefe an meinen Vater nicht mehr. Trotzdem will
ich hier ein Bild von ihr skizzieren, stellvertretend für
viele andere auch.
Grete war die
Tochter von Karl und Auguste Kirchhof. Die Familie wohnte im
gro βelterlichen
Haus Nr. 273 in der Nähe der Krankenkasse. Als Grete neun
Jahre alt war, bekam sie noch einen Bruder, Hans, an dem sie
sehr hing. Sie heiratete wohl in der Zeit der
Wirtschaftskrise, die Ehe blieb kinderlos. 1943 fiel ihr
Bruder in Stalingrad, ihr Mann scheint ebenfalls im Krieg
gefallen oder gestorben zu sein. Mit ihren Eltern ist sie 1945
von Zittau aus den mühvollen Weg der Wohnungs- und
Arbeitssuche bis nach Nordbrandenburg gegangen. Der Vater hat
das nicht lange überlebt, 1947 starb er 78jährig in
Tessenow. Die Mutter wurde 87 Jahre alt, bis zuletzt von der
Tochter betreut. Womit Grete Herkner ihren Lebensunterhalt
verdiente, weiβ ich nicht, ich vermute aber, daβ es
eine Tätigkeit an der Schreibmaschine war, denn sie hat mir
bis 1990 ihre Briefe mit der Maschine geschrieben, da war sie
schon fast ganz blind. 1980 war sie sterbenskrank. Sie schrieb
damals meinen Eltern: "Ich war im Caritasheim direkt an
einem See am Waldrand. 14 alte Menschen mit Wehwehchen und
Gebrechen wurden dort von den Ordensschwestern liebevoll
umsorgt und für hiesige Verhältnisse ganz wunderbar
verpflegt. Ich habe mich gut erholt, drei Kilo zugenommen und
bin jetzt bei 48 Kilo angelangt. Ich muβ zufrieden und
dankbar sein, denn erst jetzt habe ich erfahren, daβ
niemand gedacht hat, daβ ich noch einmal lebend aus dem
Krankenhaus kommen würde. Selbst habe ich auch nicht gewuβt,
wie krank ich wirklich war. Viel wert bin ich ja nicht mehr,
immer etwas wackelig, aber mit einer Haushaltshilfe bin ich
doch noch nicht heimreif - Gott sei Dank!" Zehn Jahre
später schreibt sie: "Mit meinen Augen ist es ganz
schlimm. Nun kann ich auch bald nicht mehr schreiben, Hören
kann ich ja seit 1930 nicht mehr viel, nun ohne Hörgerät gar
nichts mehr. Mit dem Kochen habe ich groβe
Schwierigkeiten, weil ich nur sehr schlecht schlucken kann.
Man braucht schon ganz groβes Gottvertrauen und ein paar
liebe Menschen in der Nähe, um nicht zu verzweifeln."
Damit brachen für Grete Herkner die Verbindungen zu ihren
vielen Heimatfreunden ab, denn Telefone waren damals im Osten
noch Mangelware. Die nächsten Briefe waren in verschiedenen
fremden Handschriften geschrieben. Dadurch erfuhr ich, daβ
Grete auch viele Freunde in Teterow hatte, wohin sie wohl nach
dem Tode der Mutter gezogen war. In der Nachbarschaft
war sie als hilfsbereite und stets freundliche Frau sehr
beliebt. 1993 schreibt ihre Nachbarin, eine Heimatvertriebene
aus Tetschen: "Habe Frau Herkner vor 35 Jahren hier
kennengelernt. Seitdem sind wir befreundet und wollen es auch
im Alter bleiben. Zu den Feiertagen ist sie viel zu Besuch bei
uns. Sehen tun wir uns fast täglich. Erst hat sie mir viel
geholfen, als meine Kinder klein waren, und jetzt helfen wir
ihr."
Ich denke mir,
auf diese Weise hat Frau Grete Herkner/Kirchhof doch eine
Familie gehabt; Kinder und Enkel, die ihr Freude bereitet
haben, deretwegen sie sich Gedanken gemacht hat, die sie nicht
allein gelassen haben. So ist sie kein verbitterter, einsamer
Mensch geworden, weil sie auf andere zugegangen ist und ihre
Sorgen geteilt hat.
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