12.
Die Zeit vor und nach 1848
Als
Herder in Weimar am Hofe Karl Augusts war, schrieb er u.a.
seine "Ideen zur Philosophie der Geschichte der
Menschheit" nieder. Darin stellte er die Slawen als die
Träger der Zukunft dar, die die Mission hätten, die Welt zu
verjüngen, die an der übersättigten Zivilisation der
müden, alten Kulturvölker des Westens unterzugehen drohe. Es
waren zuerst die kleinen slawischen Völker, Tschechen,
Slowaken, Kroaten, Serben, Slowenen, bei denen Herders
Botschaft auf fruchtbaren Boden fiel. Später griffen auch die
Russen sie auf. Die Gedanken Herders paβten auch in die
Vorstellungen der Ostkirche von einem Reich mit Moskau als dem
"dritten Rom". Bald schon war das
"Slawenkapitel", aus seinem Zusammenhang gelöst,
ins Tschechische übersetzt worden und erschienen. Aber auch
in Deutschland ging Herders Saat auf: Volkslied, Volkskunde,
Volksmärchen, Volksseele ... Jetzt erhielten diese Begriffe
Inhalt und Bedeutung. Die Romantiker setzten das Werk fort.
Dazu rüttelten um die Jahrhundertwende der Aufstieg
Frankreichs, Napoleons Erhebung zum Kaiser, der Untergang des
Römisch-deutschen Reiches und die Zerreiβung und
Unterdrückung Deutschlands die Gemüter auf. Ein mächtiger
Zug nationaler Leidenschaft ging durch Wissenschaft und
Literatur. In diese Zeit fallen die napoleonischen Kriege,
Siege und Niederlagen. Böhmen war das einzige Land, das
niemals von den Franzosen besetzt wurde, Prag die einzige
Stadt, die Napoleon niemals betrat. In Böhmen selbst wurde
fieberhaft gerüstet. Es war ein einziges Heerlager. Der
Eintritt Österreichs in den Krieg und der Vormarsch der
Soldaten aus Böhmen über die Berge des Erz- und
Elbsandsteingebirges nach Leipzig brachten die Entscheidung in
der Völkerschlacht zu Leipzig. Napoleon war geschlagen. Das
groβe weltgeschichtliche Drama, das sich rund um Böhmen
abgespielt hatte, hinterlieβ bei den Völkern des Landes
unvergeβliche Eindrücke. Der Nationalgedanke lieβ
die Herzen der Deutschen höher schlagen, und die Teilnahme
des slawischen Ruβland an dem Kampf gab den Tschechen das
Bewuβtsein, ein mächtiges Brudervolk zu haben. Zugleich
wurde beiden Völkern noch einmal die Verbundenheit durch ihre
gemeinsame Heimat und ihre Schicksalsgemeinschaft bewuβt.
Aber in der Folgezeit bahnte sich zunächst hauptsächlich
unter den Studenten Böhmens eine Nationalbewegung an. Die
sudetendeutschen Studenten gingen nach Leipzig, die Slawen zog
es mehr nach Jena, wo Slowaken, Kroaten und Serben sich
trafen. Bald begann es überall zu gären. Flugblätter,
Lieder, Bücher und Bilder nationalen und vaterländischen
Inhalts fanden rasche Verbreitung. Eine himmelstürmende von
nationalen Freiheitsgedanken erfüllte Jugend wuchs auch in
Böhmen heran. Aber alle Schichten des Volkes ersehnten gröβere
Freiheit, die wirtschaftlich tätigen Bürger wollten an
Gesetzgebung und Verwaltung teilnehmen, die Bauern die Last
der Robot abschütteln und selbst der Adel wollte die
bürokratische Bevormundung loswerden. Diese Sehnsucht kam
1848 in wildem Überschwang zum Ausbruch. Dem Aufbruch von
unten begegnete eine tatenlose Politik der Regierenden. Die
Februarrevolution in Frankreich hatte genügt, die
europäische Staatenwelt in ihren Grundfesten zu erschüttern.
In Österreich muβte Metternich zurücktreten. Von Wien
griff die Bewegung auf die böhmische Hauptstadt über. Am 11.
März fand im Wenzelsbade zu Smichow eine Volksversammlung
statt, an der Deutsche und Tschechen gemeinsam demokratische,
liberale und soziale Forderungen aufstellten, ohne daβ
die nationale Frage noch eine Rolle spielte. Nur ein letzter
sanfter Wellenschlag erreichte die Städte in den Randgebieten
der Sudetenländer. Man gründete Komitees und Klubs, das
Vereinsleben artete vielfach in Vereinsmeierei aus. Es war
dann vor allem die Frage, ob man die Frankfurter
Nationalversammlung beschicken sollte, an der sich deutsche
und tschechische Ansichten spalteten. Der tschechische
Historiker Palacky umriβ damals das Konzept eines
dualistischen Mitteleuropa; nur ein starkes Deutschland und
ein ebenso starkes Österreich nebeneinander könnten
Gleichgewicht und Frieden garantieren. Er sprach als
Österreicher, nicht so sehr als Tscheche. Die Tschechen
blieben der deutschen Nationalversammlung also fern. Die
Sudetendeutschen schickten 33 Abgeordnete. Sie konnten nicht
darauf verzichten, da ja auch die deutschen Alpenländer des
Kaiserstaates ihre Delegierten entsandten und damals nicht
abzusehen war, daβ die Nationalversammlung Österreich
aus dem Reich ausschlieβen werde. Der erste Riβ in
der böhmischen Staatsnation seit den Hussitenkriegen tat sich
auf. Während des zu Pfingsten einberufenen Slawenkongresses
kam es zu Unruhen und Gewalttaten. In Wien tagte im Sommer
1848 der Reichstag, im Vergleich zu Frankfurt war er eher eine
Bauernversammlung, auf dem Gebiete der agrarpolitischen
Gesetzgebung lag auch seine bedeutendste Leistung. Der
Jägerndorfer Bauernsohn und Student Hans Kudlich stellte den
Antrag auf Abschaffung der Robotpflicht der Bauern und auf
Befreiung des Bodens von allen Dienstleistungen. Im September
wurde das Gesetz verabschiedet, das den zweiten Schritt zur
vollen Bauernbefreiung darstellte. Kudlichs befreiende Tat kam
auch den Tschechen zugute. Die tschechische demokratische
Bewegung mit ihrer breiten ländlichen Grundlage wäre ohne
diese zweite Bauernbefreiung so wenig wie ohne die
josephinische denkbar gewesen. Im Dezember vollzog sich
während neuer kriegerischer Revolutionsunruhen
(Oktoberrevolution) in Olmütz der Thronwechsel: Kaiser
Ferdinand legte die Krone nieder, sein Bruder Franz Carl
verzichtete, und so wurde der erst 18jährige Erzherzog Franz
als Franz Joseph I. zum Kaiser proklamiert. In Frankfurt
rechnete man mit dem Zerfall Österreichs und beschloβ
daher, daβ kein Land mit nichtdeutscher Bevölkerung dem
Bunde angehören dürfe. Das bedeutete den Ausschluβ
Deutschösterreichs aus Deutschland, die
"kleindeutsche" Lösung. Es war die folgenschwere
Vorwegnahme der deutschen Teilung von 1866, aber auch der
Teilungen von 1919 und 1945. Umso wichtiger war, was der
Reichstag zu Kremsier für Österreich beschlieβen
würde. Der junge Kaiser lehnte eine in Gemeinden, national
abgegrenzte Kreise und Kronländer gestufte demokratische
Selbstverwaltung und eine zwischen Monarchie und Parlament
geteilte Zentralgewalt (so der Schluβentwurf des
Reichstags) ab, der Reichstag wurde aufgelöst, eine
gefährliche Reaktion kündigte sich an. Eine vom Kaiser
verkündete "Gesamtstaatsverfassung" enthielt zwar
u.a. die Gleichberechtigung der Nationen, aber ihr fehlte
leider die Sanktionierung der Völker, und damit die nötige
Festigkeit. Diese Verfassung trat daher nicht in Kraft, zwei
Jahre später wurde sie aufgehoben. Der
"Neoabsolutismus" war auf verschiedenen Gebieten
eine Zeit fruchtbarer Reformen, aber die Zensur war
erdrückend, die neuorganisierte Gendarmerie unterdrückte
jede freiheitliche Regung. Auf den Schlachtfeldern
Oberitaliens brach der Neoabsolutismus 1859 zusammen, der
Kaiser kehrte zur konstitutionellen Regierungsform zurück.
1862 war Otto von Bismarck preuβischer Ministerpräsident
geworden. Er zerschlug die Hoffnung Franz Josephs, 1863 in
Frankfurt zum Kaiser von Deutschland ausgerufen zu werden. Auβerdem
wurde Österreich von Preuβen der Eintritt in den
deutschen Zollverein verwehrt. Ein Krieg mit Preuβen um
die Vorherrschaft rückte drohend näher und kam 1866. Er
wurde gegen alle Erwartung in den Sudetenländern
ausgefochten. In der Schlacht bei Königgrätz hielt der Tod
unter den deutsch-böhmischen Regimentern furchtbare Ernte.
Vor den Toren von Preβburg fand das letzte Gefecht statt.
Bismarck schonte den geschlagenen Feind, um ihn nicht in
unversöhnliche Feindschaft zu treiben. Österreich brauchte
kein Land abzutreten, muβte aber aus dem Deutschen Bund
ausscheiden und die Neuordnung Deutschlands anerkennen. Die
Leidtragenden waren die Deutschösterreicher, die man aus dem
gemeinsamen Vaterland hinausgeworfen hatte. Die Geschichte des
Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war zu Ende, die
Österreich - Ungarische Monarchie geboren. Die Deutschen
Österreichs waren nunmehr auf sich selbst gestellt.
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