13.
Die Industrialisierung
Schicksal
und Politik der Sudetendeutschen wurden im 19.Jahrhundert in
steigendem Maβe durch die wirtschaftliche Entwicklung
bestimmt. Die Unternehmungslust des Bürgertums, eine
glückliche Verbindung von Erfindungsgeist, Umsicht und
Kühnheit haben in besonderem Maβe den
nordböhmisch-schlesischen Stamm zu einem Vorposten des
wirtschaftlichen Fortschritts gemacht. Sehr bald beteiligten
sich sudetendeutsche Unternehmer und ihre Mitarbeiter an der
Weiterentwicklung technischer Erfindungen und begannen auch im
eigenen Land Maschinen zu bauen. Glas-, Porzellan- und
Tuchindustrie nahmen einen gewaltigen Aufschwung. In den 40er
Jahren begann der stürmische Ausbau des Eisenbahn- und
Verkehrswesens. Es bildeten sich Industriezentren: Reichenberg
= Baumwoll- und Schafwollverarbeitung, Trautenau und Mährisch
Schönberg = Leinwanderzeugung, Nordmähren = Seidenindustrie,
Erzgebirge = Klöppelspitzen und hölzerne Spielwaren,
Graslitz und Schönbach = Musikinstrumente, Isergebirge =
Glaserzeugung, Gablonz = Glasschmuckerzeugung, Adlergebirge =
Schachteldreher, Westböhmen = Holz- und Perlmuttdreherei,
südlicher Böhmerwald = Bildschnitzereien, Brüx/Dux und
Riesengebirge = Metallwarenerzeugung, Aussig = gröβte
chemische Industrie Mitteleuropas, Nordböhmen =
Strumpfindustrie (Kunert), Elbetal = Seifen-, Kerzen-,
Kunstfetterzeugung (Schicht), Bodenbach = Schokoladefabriken,
Teplitz = gröβte Tafelglasfabrik Europas, Maffersdorf =
international bekannte Teppichweberei und -knüpferei. Die
tschechischen Gebiete hatten einen überwiegenden Anteil an
den landwirtschaftlich fundierten Erzeugungen wie Zucker,
Spiritus, Bier usw. Die Steinkohlenlager von Kladno und
Mährisch Ostrau schufen günstige Voraussetzungen für die
Schwerindustrie.
Mit
der Industrialisierung stieg die Zahl der Lohnarbeiter, auch
der tschechischen sprunghaft. Die Lebensbedingungen dieses
vierten Standes waren in den ersten Jahren trostlos. Die
Löhne waren niedrig. Brot war beinahe ein Luxus. Die
Wohnverhältnisse waren schlecht. Im Kohlerevier war es am
schlimmsten. Es war ein Glück für die Sudetendeutschen, daβ
so viele Erwerbszweige mit Heimarbeit verbunden blieben. So
schwer die Menschen dabei ihren Unterhalt erarbeiteten,
behielten sie doch noch den Zusammenhalt ihres Familienlebens
und ein Gefühl für Heimat und Herd. Es bildeten sich im
Sudetenland keine eigentlichen Elendsviertel. Vielfach wurde
nebenher noch etwas Ackerbau betrieben, und man hielt Ziegen
oder auch Schweine. Verwandelt und oft entstellt wurde durch
die Industrialisierung das Bild der sudetendeutschen
Landschaften. Der natürliche Wasserhaushalt wurde gestört
und Raubbau am Wald getrieben. Auch der Charakter der alten
Bauerndörfer änderte sich nachhaltig. Lärm und Rauch
erfüllte die stillen Täler. Im Zeichen der Moderne
zerstörte man oft mutwillig, was die Väter geschaffen. Es
konnte nicht wundernehmen, daβ sich unter den Arbeitern
sozialistische und kommunistische Gedanken verbreiteten. Mit
Ferdinand Lassalle breitet sich die politische
Arbeiterbewegung aus. Man gründete Unterstützungs- und
Bildungsvereine, bildete Genossenschaften und schloβ sich
in gewerkschaftsähnlichen Verbänden zusammen. Es entwickelte
sich aber auch der Radikalismus, der die Entwicklung der
Arbeiterbewegung zunächst hemmte, aus der aber dann die
Sozialdemokratie hervorging, die bei den Sudetendeutschen
besonders starken Anklang fand. Seit 1897 war die
Sozialdemokratie auch im Reichsrat vertreten. Inzwischen
hatten sich die Lebensverhältnisse der Arbeiter gebessert.
|