Anton Jäger - Meine Bildungsgeschichte

Zurück ] Weiter ]

ZUR ÜBERSICHT

ZUM SEITENENDE

 

Ich kann die Chronik natürlich nicht anders abschlieβen als mit der Lebensgeschichte des Mannes, dem wir so viel Wissen über die Vergangenheit Maffersdorfs verdanken, und ohne dessen Werk ich nicht imstande gewesen wäre, die Hefte über Maffersdorf zu schreiben. Zu danken ist dabei aber auch den Menschen, die in ihrer Heimatliebe solche Bücher wie die Jäger'sche Chronik im Vertriebenengepäck mitgenommen haben. Anton Jäger hat neben seiner Chronik auch "Meine Bildungsgeschichte" geschrieben. Dr. Ludwig Schlesinger hat sie 1874 - zwei Jahre nach Jägers Tod - herausgegeben als Separatausgabe aus den Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen (Jahrg. XII 1-4). Ich möchte das Lebensbild Jägers mit seinen eigenen Worten zeichnen, weil es ihm so vielleicht am ehesten gerecht wird und auch seine wunderbare Sprache wiedergibt. Natürlich muβ ich sehr stark kürzen.

ANTON JÄGER

* 1817    1872

 

Meine Bildungsgeschichte

Der Tag, welcher mich zur Welt brachte, war der 14. April 1817. - Aus der ersten Zeit meines Lebens weiβ ich in geistiger Beziehung keinen besonderen Umstand anzugeben als nur allein eine auβerordentliche Wiβbegierde, welche ich schon zu äuβern anfing, sobald ich nur der Sprache mächtig war. Da in unserem Hause mein Vater diejenige Person war, welche am meisten wuβte und kannte, so war er es vorzüglich, an welchen ich als kleiner Knabe mich mit unzähligen Fragen wendete. Hundertmal stand ich zur Winterszeit neben ihm auf der Ofenbank , mich an seine Knie anschmiegend und eine Frage nach der anderen an ihn richtend. Mein Vater besaβ in der That mehr Kenntnisse als andere Dorfmänner seiner Zeit und seines Ortes. Er war ziemlich belesen, hatte viel erlebt und, da er im Alter mir um 55 Jahre voraus war, wuβte besonders aus alten Zeiten gar manches zu erzählen. Durch seine Mittheilungen hat er vieles von seinem Wesen auf mich vererbt, was in mir fortlebt und fortwirkt, und hauptsächlich die durch ihn erhaltenen Traditionen waren es, welche mich zu meinen lokalgeschichtlichen Arbeiten veranlaβten.

 

Die Schulzeit

Die Schule, in welcher ich meinen Unterricht erhielt, wurde als Filiale der Maffersdorfer Schule im Bauernhause Nr. 37 in Proschwitz gehalten. Ein Schulgehilf kam täglich zweimal von Maffersdorf herauf. Sehr bald lernte ich die Buchstaben kennen und ohne Anstoβ lesen. Nicht so leicht ging es mit dem Rechnen. Ich kann mich nicht rühmen, zu den befähigsten Schülern gehört zu haben, wie denn überhaupt meine geistige Entwicklung langsam vor sich ging. Mehrere meiner Mitschüler kamen mir an Kenntnissen ziemlich weit voraus, weil ihnen das Lernen leichter wurde als mir, aber die wenigsten haben ihren Vorsprung später gegen mich behauptet, da ihre Ausdauer der meinigen nicht gleichkam, und ihre Lernbegier nicht, so wie die meinige, mit den reiferen Jahren zunahm.

Zu Anfang meiner Schulzeit kam Stephan Sommer als Kaplan nach Maffersdorf und übernahm den Religionsunterricht in den beiden Schulen des Kirchsprengels. Er konnte als das Muster eines Priesters in des Wortes edelster Bedeutung gelten. Dabei war er ein ganz besonderer Kinderfreund. In Erkenntnis der nützlichen Wirkung guter Schriften schaffte er aus eigenen spärlichen Mitteln eine Sammlung von Volks- und Jugendschriften an. Die fähigsten Schüler faβte P. Sommer besonders ins Auge und bewog die Eltern einiger talentvoller Knaben, diese studieren zu lassen, so Plischke aus Maffersdorf und Pfeiffer aus Kunnersdorf, welche beide nachher in den geistlichen Stand traten. Josef Hoier, der Sohn aus dem Schulhause, widmete sich dem Lehrfache; Augustin Wagner aus meiner nächsten Nachbarschaft, der Sohn armer und dabei sehr frommer Leute, sollte nach dem Herzenswunsche seiner Eltern ebenfalls ein "Pater" werden, faβte jedoch zum Leidwesen derselben nach beendeten Gymnasialstudien eine so unüberwindliche Abneigung gegen diesen Stand, daβ er seine Studien aufgab und sich lieber zu Hause hinter den Webstuhl setzte. Später nahm er dieselben wieder auf, und zwar verlegte er sich auf die Chirurgie, verfiel jedoch in eine Krankheit und erreichte eher das Ziel seiner Lebensbahn als das seiner Ausbildung. Er starb in der Blüthe seines Alters zu Prag im Jahre 1845. Ich gedenke seiner als eines treuen, aufrichtigen Freundes. Ein anderer Mitschüler, Pilz mit Namen, war durch ganz vorzügliche Fähigkeiten ausgezeichnet, welche jedoch unter dem Drucke der Armuth verkümmern muβten. Er war nach seinem Austritte aus der Schule eine Zeitlang dem Lehrer beim Unterrichte behilflich, und es hätte nur einer kleinen Nachhilfe bedurft, um einen solchen aus ihm zu machen. Diese kam ihm jedoch von keiner Seite, und er blieb in der elenden Hütte seines Vaters, wo er sich durch Abschreiben und selbsterlernte Buchbinderei ärmlich ernährte. Er schrieb Gebetbücher in Druckschrift ab, zeichnete die Holzschnitte mit Tinte hinein und band sie hernach ein. Ein solches sauber geschriebenes Gebetbuch durfte aber fix und fertig nicht theurer kommen als ein gedrucktes, wonach der Verdienst des armen Pilz beurtheilt werden kann. Auch seines Vaters will ich in einigen Worten gedenken. Dieser konnte weder lesen noch schreiben, aber desto besser singen. Er ging von Zeit zu Zeit in den Häusern des Ortes und der Umgebung herum und sang um ein Stück Brot Volkslieder in der hiesigen Mundart, kurzweilige und heilige, traurige und schaurige im bunten Gemisch durcheinander. Er machte dabei so seltsame Grimassen, daβ niemend dabei ohne Lachen auf ihn sehen konnte.

Auβer meinen Schulbüchern und den vom gütigen P. Sommer mir geliehenen Jugendschriften kamen mir während meiner Schulzeit wenig Bücher in die Hände; unter diesen wenigen aber befand sich eine Lutherbibel, welche sich wahrscheinlich noch aus den Zeiten des Protestantismus in einem Nachbarhause erhalten hatte. Ich las als kleiner Knabe viel in derselben und wurde dadurch besser mit dieser merkwürdigen ältesten Urkunde des Menschengeschlechts bekannt, als wenn sie mir später unter der Menge anderer Bücher vorgekommen wäre. Eine der vortrefflichsten, zweckentsprechendsten Jugendschriften ist unstreitig Kampe's Robinson der Jüngere, welchen ich auch frühzeitig aus der Sammlung P. Sommer's zum Lesen erhielt. Wie öffnet dieses Buch dem Knaben im abgelegenen Gebirgsthale die Aussicht in die weite Welt mit ihren Wundern und ihrer Herrlichkeit.

Mit Vergnügen betrachtete ich schöne Bildwerke und versuchte bald, solche mit Bleistift, Tinte und Röthel nachzuzeichnen. Als der Vater dieses bemerkte, kaufte er mir Tuschfarben, womit ich im Winter sehr emsig in Papier ausgeschnittene Krippelfiguren malte. Mein Krippel machte mir über Winter groβes Vergnügen und viel Unterhaltung. Ich wallfahrte sonntags in der nahen und fernen Nachbarschaft von einer Krippe zur anderen, und wo mir eine Figur, eine Hirtengruppe, ein Baum oder eine Landschaft besonders gefiel, die muβte mein werden durch Nachbildung. Ebenso machte ich es mit den Bildwerken in der Kirche, auf denen meine Augen in wahrer Kunstandacht beständig herumschweiften. Für die wenigen Kreuzer, die ich etwa in der Tasche hatte, kaufte ich mir Farben und Papier, und zu Hause ging es dann an ein Farbereiben, Zeichnen, Ausschneiden und Pinseln, welches den ganzen Sonntag und noch einen Theil der Nacht emsig fortgesetzt wurde.

Weniger Trieb als zur bildenden Kunst fühlte ich zur Musik. Mein Vater erheiterte sich manche Stunde an seinem Violinspiel. Wenn er nach beendetem Spiel sein Instrument an die Wand hing, pflegte er öfters mit einem bedeutsamen Blick auf mich zu sagen: "Wenn ich mein Spiel nur einem Kinde vererben könnte!" - Seine Vermögensumstände erlaubten keinen Musikunterricht für mich.

 

Die Lehrzeit

Als meine Schulzeit sich ihrem Ende nahte, muβte die Frage zur Entscheidung kommen, was aus mir werden sollte. Die väterliche Mühle war für meinen Bruder Franz bestimmt, und in Betracht meiner Lernbegier trug sich mein Vater längere Zeit mit dem Gedanken, mich studieren zu lassen. Doch als Bruder Franz die ihm zugedachte Mühle ablehnte, so entschied dieser Umstand endgültig für meinen Beruf als Müller. Das Joch, welches ich freudig auf meine jungen Schultern nahm, war vorerst kein drückendes; denn unsere abgelegene Mühle wurde jenerzeit nur schwach betrieben, und mir blieb dabei Zeit genug, meinen Lieblingsneigungen nachzuhängen. Dennoch war es in gesundheitlicher Beziehung ein übles Geschick, welches mich so jung ins stauberfüllte Mahlhaus bannte. Doch solche Erwägungen konnten nicht maβgebend sein in einer Familie, die mit materiellen Kümmernissen zu kämpfen hatte; noch weniger konnte für meine weitere geistige Ausbildung etwas geschehen; diese blieb allein meinem eigenen Streben überlassen, welchem etwa Zufall oder Fügung zu Hilfe kam.

So sehr auch mein Geist nach Wissenschaft hungerte und dürstete, so hatte ich in meinen abgeschiedenen Verhältnissen doch keinen Begriff von der Unerschöpflichkeit dieser geistigen Nahrungsquelle. Aber ich konnte ja lesen und hatte also den Schlüssel zu allem Wissenswerthen. Kampe's Robinson hatte das Verlangen in mir wachgerufen, fremde Länder und Völker (freilich nur aus Beschreibungen) kennen zu lernen. Im selben Buche ist von einer Landkarte die Rede, und indem mir mein Vater auf mein Befragen erklärte, was das eigentlich sei, wurde ich sehr neugierig, eine solche zu sehen. Da geschah es, daβ ich einmal nach Reichenberg zum Jahrmarkte ging und dort vor einer Bilderbude stand. Unter den Bildern hingen einige Bögen mit verschiedenen krummen, geraden, geschlängelten Linien, Punkten und anderen Zeichen, in welchen ich bei genauer Betrachtung Landkarten erkannte. Meine Freude über die Entdeckung war groβ, und es war gut, daβ sie nicht theuer waren und ich einiges Geld bei mir hatte. Ich kaufte einen Planiglobus,eine Karte von Deutschland und Europa, das Stück um einen Zehner. Mit einem Gefühle, als wäre die ganze Erde mein eigen, eilte ich damit nach Hause; und hier wurde der gefundene Schatz Gegenstand meines eifrigsten Studiums. Als ich erfuhr, in Friedland halte ein Buchbinder ein Lager von Jugendschriften, war mir der lange Weg bis dorthin gar nicht zu weit, ich machte mich eines Sonntagsmorgens auf die Beine und pilgerte gen Friedland, fand auch den Buchbinder, that aber keinen glücklichen Griff, denn es waren ziemlich seichte Machwerke, die ich nach Hause trug.

In der Zeit, da es mir an Lesestoff gebrach, beschäftigte ich mich auf andere Weise mit den Büchern: ich schrieb sie ab. So that ich es z.B. mit einigen Erzählungen von Christoph Schmid, die ich von P.Sommer geborgt erhielt. So kam ich zu Büchern, ohne daβ ich sie zu kaufen brauchte. Aber wieviel Besseres hätte ich in der dabei verlorenen Zeit ausrichten können! Damals geschah es auch, daβ mir ein Buch in die Hände kam, welches mir den Vorhang vor dem unbekannten Reiche der Wissenschaft ein wenig lüftete: ein alter Kalender, Jurende's vaterländischer Pilger für 1826, eine Sammlung von Aufsätzen aus verschiedenen Werken und Zeitschriften über vielerlei Gegenstände der Wissenschaft, Kunst und Literatur. Viele hundert Stunden saβ ich über diesem Buche, so daβ ich am Ende den Inhalt zum gröβten Theile meinem Gedächtnisse eingeprägt hatte. Inzwischen kam ich wieder auf die Spur jenes Buchbinders, dem ich auf dem Reichenberger Markt mein erstes Buch abgekauft, und dessen Erscheinung ich nachdem so lange vergeblich gesucht hatte. Es war der Buchbinder josef Klöbl; derselbe hielt in Reichenberg bei seinem Geschäft auch eine Leihbibliothek, durch welche meiner Noth um Lesestoff nunmehr gründlich abgeholfen wurde. Ich benützte sie mit meinem damaligen Kameraden Franz Plischke, welcher nachher Baumeister wurde und später nach Amerika auswanderte. Bei alledem fuhr ich fort, in freien Stunden fleiβig zu malen und zu zeichnen.

Nun habe ich noch einer Jugendliebhaberei zu erwähnen, nämlich des Theaterwesens.- Ein ehemaliger Schulkamerad meines Vaters, der Bleicher Josef Wagner aus dem Hause Nr.1 in Neuwald, pflegte jenen öfters zu besuchen. Wagner war ein aktiver Theilnehmer des vor Zeiten aufgeführten Passionsspieles gewesen, wobei ihm zuletzt die Rolle des Pilatus zugetheilt war. Wagner brachte einmal das geschriebene Manuskript des Spieles, welches ich mit groβem Interesse durchlas. Wie hiedurch meine Aufmerksamkeit auf theatralische Vorstellungen hingelenkt wurde, so war es mir ein groβes Ereignis, als einmal eine herumziehende Schauspielerbande in unserem Dorfe haltmachte und in einem Bauernhause mit groβer Stube ihre Schaubühne aufschlug. Ich gehörte zu den fleiβigsten Besuchern. Ich hatte wohl auch den Einfall, selber ein Schauspieler zu werden; aber, beiläufig gesagt, hätte ich zu nichts in der Welt weniger gepaβt als zu einem solchen. In wie ganz anderem Lichte erschien mir das alles, nachdem ich gute Schauspieler auf den groβen Theatern gesehen und die Meisterwerke unserer Dichter gelesen hatte.

Wie vertrugen sich aber alle diese Beschäftigungen mit meinen Berufsarbeiten? Sie durften denselben nicht viel Abbruch thun. Ich lernte unschwer die bei der Müllerei nothwendigen Verrichtungen, half meinem Vater bei der Brettsäge, welche damals neben der Mühle bestand, und muβte auch bei cen Feldarbeiten mit zugreifen; besonders gern beschäftigte ich mich mit den Holzarbeiten im Walde. Freilich schaute ich manchmal auch länger in die Bücher, als dem Vater lieb war. So verstrichen meine drei Lehrjahre und noch zwei Jahre darauf.

 

Die Wanderzeit

Aus den Länder- und Reisebeschreibungen, welche ich mit Vorliebe gelesen, auch aus den Erzählungen wandernder Gesellen, welche oft genug in der Mühle meines Vaters übernachteten, wuβte ich so viel Merkwürdiges und Interessantes über andere Gegenden und fremde Länder, daβ ich groβes Verlangen trug, es bald mit eigenen Augen zu sehen. Seit meiner Freisprechung von der Lehre lag ich meinem Vater mit Bitten in den Ohren, er wolle mir erlauben, in die Fremde zu gehen. Ich glaubte vergehen zu müssen vor ungeduldiger Sehnsucht nach der Ferne. Da ich mich schlechterdings nicht mehr halten lieβ, wurde mein Reisebündel gepackt und mit einer weiβen Schürze umwickelt. Das Reisegeld - zwei Speziesthaler - nähte mir die Mutter in den Hosengurt, während der Vater mir einprägte, nur im äuβersten Nothfalle es anzugreifen. Nach dem Mittage hing ich mein Bündel nach Müllerart über die linke Schulter, nahm in die rechte Hand den Wanderstab und trat wohlgemuth meine Reise ins Blaue an. Mir gefiel es ganz wohl dieses Wandern, und ich legte manche Meile Weges zurück. Zuerst durchstreifte ich das nördliche Böhmen von Osten, aus der Heimat, gen Westen. Es war ein schöner Sommerabend, als ich den Hasenberg im Leitmeritzer Kreise bestieg, welcher mit den Ruinen der Hasenburg gekrönt ist. Es gefiel mir so wohl in den alten Gemäuern, daβ ich ohne Bedenken mein Nachtlager zwischen denselben aufschlug. Dieses freie Nachtlager, das Wanderbündel als Kopfkissen, das Röcklein als Decke gebraucht, den klaren Sternhimmel über mir, gefiel mir so wohl, daβ ich es auf meiner Reise aus purer Liebhaberei etliche Male wiederholte. Auf dem Markte in Leitmeritz traf ich einen Büchertrödler, der mir gerade recht war. Von ihm kaufte ich eine Karte von Böhmen und und vom Erzherzogthum Österreich; auf diesen Karten konnte ich nun meine Marschrouten absehen, ohne erst viel fragen zu müssen. Ferner kaufte ich von demselben Manne eine alte Länderbeschreibung des Kaiserthums Österreich. So konnte ich nun die eigene Anschauung der Städte und Gegenden, die ich durchzog, mit der Beschreibung vergleichen.

Von Leitmeritz ging meine Reise über Teplitz, Brüx, Komotau, Saaz, Karlsbad, Marienbad, Pilsen, Klattau, wie die mäandrich geschlängelten Bäche und Flüsse mich führten. Im südlichen Böhmerwalde passierte ich unweit Winterberg die Grenze des Erzherzogthums Österreich. Es war ein sehr anmuthiges Thal, welches mir von der Höhe des Gebirges drüben zuerst sichtbar wurde, in welchem der Markt Aigen, in dessen Nähe das idyllische Kloster Schlögel liegt. Ich folgte der Mühl bis zu ihrer Mündung in die Donau unweit Linz. Nachdem ich die Landschaft von Steier bis St. Pölten und Krems durchstreift, fuhr ich von letzterer Stadt mit einem bairischen Getreideschiffe auf der Donau bis Klosterneuburg hinunter und hielt sodann Einzug in die Metropole Österreichs.

Wien sah ich diesesmal nur auswendig, denn meine Unerfahrenheit wuβte sich die Sehenswürdigkeiten der Stadt nicht zugänglich zu machen; doch bestieg ich den Stephansturm und den Leopoldsberg, und dann wollte ich durch das Alpenland auf die Seestadt Triest zusteuern. Da machte mir das Schicksal einen Strich durch die Rechnung; ob zum Guten oder zum Schlimmen kann ich nicht sagen: mein Wanderbuch war verlorengegangen. Da ich nun ohne Reisedokument nicht weiter fort konnte und mir um Ersatz des verlorenen Wanderbuches keinen Rat wuβte, so muβte ich mich zur Rückreise entschlieβen, die ich auf der geraden Straβe über Znaim, Iglau und Czaslau einschlug und zu Fuβ in sieben Tagen vollendete. Als ich den Mühlberg herunterging, aus dem Walde heraustrat und die väterliche Wohnung vor mir liegen sah, da kam mir alles so fremd vor, als wäre ich jahrelang nicht da gewesen.

 

Saure Wochen

Zu Hause war groβes Verlangen nach mir; meine Eltern und Geschwister hatten groβe Sorge um mich ausgestanden, weil ich die ganze Zeit meiner Abwesenheit nichts hatte von mir hören lassen. Ich traf die in gewöhnlicher Zeit oft leer stehende Mühle gefüllt mit Getreidesäcken, und so fand ich bei meiner Wiederkehr offene Arme und eine offene Stelle. Nun folgten sieben Wochen harter Arbeitszeit, während welcher ich beinahe nicht aus dem stauberfüllten Mahlhause herauskommen konnte, wobei mein längster Schlaf ohne Unterbrechung kaum eine halbe Stunde währte. Es war ein schweres Opfer an Kraft und Gesundheit, welches ich unserer Familie darbrachte in der Blüthe meines Jünglingsalters, wo der Körper in der Ausbildung, im besten Wachsthume begriffen war. Zeitlebens habe ich an den nachtheiligen Folgen der Überanstrengung zu tragen. O warum war niemand da, der mich vor diesem Übel bewahren konnte! Warum lehrte mich niemand der Sorge für meine Gesundheit alle anderen Sorgen nachzusetzen?

Endlich wurde es denn doch eingesehen, daβ meinem jungen Körper zu viel Anstrengung zugemuthet ward, und ich erhielt für meine Arbeiten bei der Mühle einen Gehilfen. Mit der Vollendung meiner Wanderschaft war es fortan nichts, denn ich war unentbehrlich im Hause. Als mir meine Berufsgeschäfte wieder einige Muβe vergönnten, nahm ich mit erneutem Eifer die Bücher nebst Stift und Pinsel wieder zur Hand.

 

Weitere Fortbildung

Die im Jahre 1837 in Reichenberg etablierte "von Sr.k.k. Majestät allergnädigst konzessionierte Buchhandlung des Benedikt Pfeiffner" kam mir vor, als ob sie eigens für mich eingerichtet worden wäre. Von meinem Verdienste gab ich gerne keinen Kreuzer auf andere als schlechterdings unentbehrliche Sachen aus, um nur einiges Geld zur Anschaffung von Büchern zu erübrigen. Von dieser Zeit datiert der kleine Anfang meiner groβen Büchersammlung. Ich machte mir im Hause ein kleines Kämmerchen für meine Bücher zurecht, und dort verbrachte ich manche Stunde einsamen Stillvergnügens. Eines der ersten Werke, welches ich in der neuen Buchhandlung pränumerierte, war das "Bilder=Conversations=Lexikon" - ein Auszug aus dem bekannten Brockhaus'schen Conversationslexikon. Durch dieses Lexikon gelangte ich nun zur Kenntnis der Koryphäen der Literatur und verschiedener Wissenschaften, die mir bisher beinahe fremd gewesen waren.

Unter den Wissenschaften war es vor allem anderen die Erd- und Völkerkunde, welcher ich mit fleiβigem Studium oblag. Ebenso gründlich verfuhr ich mit der Geschichtskunde. Zuvörderst war es die deutsche Geschichte, welche mein gröβtes Interesse erregte, so wurde hiedurch mein deutsches Nationalgefühl unabänderlich befestigt. Mit nicht geringerer Lust und Liebe warf ich mich auf die Naturwissenschaften. Die Kenntnis von dem Bau des menschlichen und thierischen Körpers, von den Organen desselben und ihren Verrichtungen, von den Naturgesetzen und Naturkräften verschaffte mir die angenehmste Unterhaltung, die sich denken läβt. Vor allen anderen zog mich aber die erhabenste aller Wissenschaften an, die Astronomie. Welche Bewunderung, welches Staunen, welch' ahnungsvolle Schauer überliefen meine Seele, als ich den Bau, die Anordnung des Weltalls kennen lernte.

Zwischen meiner wissenschaftlichen Lektüre verwendete ich einen groβen Theil meiner freien Zeit auf die schöne Literatur. Ein Schatz derselben um den anderen wurde von mir gehoben, und bei jeder neuen Ausbeute wurde meine Freude erneuert und vergröβert. Mit gehaltlosen Romanen mochte ich mich nimmer abgeben; kam ich über ein Buch, welches keine veredelnde Wirkung auf mich ausübte, das ward alsbald zur Seite gelegt. - Auch die schöne Literatur der Griechen und Römer blieb mir natürlich nicht unbekannt. Unter den Zeitschriften war mir die Gartenlaube vom Anfang die liebste Hausfreundin.

Wie vertrugen sich aber meine Selbststudien mit meinen Berufsgeschäften? Sie nahmen diesen allerdings manche Stunde Zeit weg; ein groβer Theil der darauf verwendeten Zeit war jedoch solche Zeit, welche die meisten Menschen gewöhnlich anderen Vergnügungen, Gewohnheiten und Neigungen zu opfern pflegen, wofür ich wenig oder gar keinen Sinn hatte, z.B. dem Spiel und mancherlei gutem oder schlechtem Zeitvertreib. - Meine Bücher kosten mich freilich auch ein schönes Geld, das war jedoch wiederum solches Geld, welches andere meines Gleichen für Trunk, Tabak und ähnliche Genüsse ausgaben, wofür ich wenig oder nichts brauchte; auch war ich ohne groβe Überwindung imstande, einem erwünschten Buche zu Liebe meine wirklichen Bedürfnisse einzuschränken. Ich hatte z.B. geschäftehalber regelmäβig den Reichenberger Wochenmarkt zu besuchen. Dabei wurde jedesmal auch die Buchhandlung besucht; kam mir nun in derselben ein Buch vor, nach dem ich groβes Verlangen trug, ohne daβ meine Mittel mir die Ausgabe dafür erlauben wollten, so trat ich kurz entschlossen für den geistigen Genuβ mit einer leiblichen Entsagung ein, indem ich nach abgethanen Geschäften ohne Einkehr und Zehrung nach Hause ging, und das so oft, bis der Preis des Buches erspart war. Es war mir immer unbegreiflich, wie ein für einen wissenschaftlichen Beruf gebildeter Mensch die Wissenschaft nachhher so gänzlich an den Nagel hängen kann und sein Geschäft als Arzt, Rechtsgelehrter, Seelsorger, Lehrer u.s.w. rein handwerksmäβig betreibt, ohne sich um den Fortschritt im geringsten zu kümmern.

 

Selbstschau

Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben,
Willst du die andern verstehn, blick in dein eigenes Herz.

Ich kann von mir sagen, daβ ich das Gute stets redlich gewollt habe, und auch mein Glaube an das Gute ist jederzeit unerschütterlich geblieben; doch vermochte ich es nicht immer zu treffen und in meinen Handlungen auszuprägen. Nach meinem Fehler empfand ich allemal tiefe Reue und konnte mich nur mit dem beruhigen, was der Spruch ausdrückt:

"Das sind die Weisen,
die aus Irrthum zur Wahrheit reisen.
Die bei dem Irrthum verharren,
das sind die Narren."

In meiner Abgeschiedenheit hatte ich mir wenig Kenntnis der Umgangsformen und Weltklugheit erworben, und ich konnte eine gewisse Blödigkeit und Unbeholfenheit im Umgange nie ganz los werden, selber dann nicht, als das Geschäftsleben schon sehr an mir geschliffen hatte. Dazu kamen verschiedene andere Eigenheiten, die mir vor der Welt das Ansehen eines Sonderlings geben konnten. Ich sah diese Eigenheiten kaum als Fehler an und bemühte mich also nicht sehr um ihre Abgewöhnung.

Ein braver Mann zu sein im Sinne des bekannten Studentenliedes, deβ kann ich mich durchaus nicht rühmen, da ich niemals in meinem ganzen Leben einen eigentlichen Rausch gehabt. Bier trank ich immer sehr wenig, den Wein liebte ich nicht, und den Branntwein konnte ich nicht leiden. Schwelgerei war also nicht mein Fehler, weder im Trinken noch im Essen. Auch bin ich in dieser Hinsicht nicht sehr tolerant, ein Trunkenbold war mir immer unausstehlich. Niemals kam ich in Versuchung aus dem Tabakrauchen ein Genuβmittel zu machen, noch viel weniger mochte ich vom Schnupfen dieses gepulverten Unkrauts wissen, ganz zu geschweigen der Gewohnheit den giftigen Saft desselben auszukauen. Da ich nun auch das Spiel für bloβe Zeitverschwendung halte, so konnten gewöhnliche Gesellschaften wenig Anziehung auf mich ausüben. Eine gebildete Gesellschaft, worin vernünftige Gespräche über Politik, Religion, Literatur, Kunst und Wissenschaft geführt wurden, ja, das war etwas anderes, eine solche zog mich an; war die Heiterkeit dabei vorherrschend, desto lieber!

Mein Herz zog mich immer zu dem armen Volke hin. Es ist wahr, daβ viel Rohheit unter demselben gefunden wird, es ist aber nicht seine Schuld. Ich habe in sogenannter guter Gesellschaft zuweilen schmutzigere Zoten anhören müssen, als in ungebildeten Kreisen, dort aber nicht dasselbe Wohlwollen, dieselbe Gutmüthigkeit, Aufrichtigkeit und Treuherzigkeit angetroffen wie hier. Mein Sinn war stets auf Einfachheit und Natürlichkeit gerichtet.

Bei meiner groβen Vorliebe für das Studieren vernachlässigte ich jedoch nicht das Handtieren und war jederzeit ein Freund und Liebhaber der Handarbeit, die ich als vorzügliches Mittel zum Wohlsein von Geist und Körper betrachte. Arbeit ist die heiligste Verrichtung, jede nützliche Thätigkeit wirket beglückend auf den Menschen; als die beglückendste von allen Beschäftigungen erscheint mir aber die segenbringende Arbeit des Landmannes. Mir gilt das Landleben als ein glückliches Los; den dauernden Aufenthalt in einer groβen Stadt würde ich als halbe Gefangenschaft angesehen haben.

Meine Weltanschauung ist das Produkt meiner Selbstbildung durch die Schriften weiser Männer aller Zeiten und Nationen; sie ist, was man eine optimistische Weltanschaung nennt, das heiβt: mir kommt die Welt und das Leben schön vor trotz allem vermeidlichen und unvermeidlichen Übel, welches noch darin wurzelt. Wie wird jeder Mensch das Glück seines Daseins genieβen können, wenn erst die Menschheit auf dem Wege der Humanität weiter vorgeschritten sein wird, auf welchem sie sich, wie uns die Geschichte beweist, trotz aller Abirrungen dennoch fortbewegt, dem schönen Ziele einer glücklichen Zukunft entgegen.

Ich habe besonders der Politik und Religion immer groβe Aufmerksamkeit zugewendet. Freiheit und Fortschritt steht auf der Fahne, zu welcher ich unwandelbar gehalten habe. Nur allein solche Helden, wie Washington, Garibaldi und ihres Gleichen, erregten meine Bewunderung und Verehrung, aber gegen Völkergeiβeln und Verräther an der Freiheit und wahren Humanität, wie Cäsar und Napoleon und andere ihrer Art, gegen diese konnte ich nur Abscheu empfinden. Das Waffenhandwerk für den Dienst ränkevoller Kabinettspolitik halte ich für eine schlechte Sache, daβ ich nicht begreife, wie ein humaner Mensch sich freiwillig zum Kriegsknechte verkaufen kann. Als Österreicher gehörte ich nicht zu den besten Patrioten. Bei mir steht das Deutschthum immer über dem Österreicherthum. Von anderen Nationen haben die tüchtigen Engländer meinen besonderen Beifall; weniger die eitlen, leichtfertigen Franzosen. Das Einigungswerk der zerschlagenen, miβhandelten Italiener verfolgte ich mit groβer Theilnahme; der Slaven kann ich nur mit Miβtrauen gedenken, da sie voll Deutschenhaβ sind. Die Lehren des Kommunismus und Sozialismus machten mich für den Augenblick betroffen; aber bald sah ich ein, daβ sich diese Propheten der Gleichmacherei auf dem Holzwege befinden. Wenn dereinst die Milliarden, welche für das Militärwesen auf Zerstörungszwecke verausgabt werden, auf Bildungsanstalten für das Volk und auf Versorgungsanstalten für invalide Arbeiter verwendet werden, dann wird es gewiβ viel weniger Noth und Elend in der Welt geben.

Ich komme nun auf meine religiösen Ansichten. In meiner Jugendzeit hielt ich alle durch den Religionsunterricht in der Schule erfahrenen Satzungen für lauter unbezweifelte Wahrheiten. Das dauerte so lange, bis ich über Natur und Welt tiefer nachdenken lernte, dann stiegen unwillkürlich verschiedene Zweifel in meiner Seele auf. Der Seelenzustand, in welchen ich durch diese Betrachtungen und Zweifel gerieth, war durchaus nicht befriedigend, ja, er ist bei manchen Menschen aus dem gleichen Anlasse eigentlich ein verzweifelter geworden. Wer verschiedene, in kindlicher Einfalt als Wahrheiten eingelernte Lehrsätze nachher bei genauerer Einsicht als Irrthümer erkennen muβte, wird den nicht Miβtrauen beschleichen gegen das ganze Lehrgebäude? So haben quälende Zweifel manchen Menschen ungewiβ und irre gemacht über seine Bestimmung, über den Zweck seines Daseins. Mancher ist vom Glauben über den Aberglauben zum Unglauben übergegangen. Glücklich derjenige, der sich bald wieder zurechtfindet. Mir gelang es nach kurzer Zeit, das Grauen vor dem Nichts durch Vertrauen auf das Beste zu bewältigen. Die menschenwürdigste Vorstellung von der Gottheit ist jedenfalls die, Gott als den liebevollen Vater aller Menschen zu betrachten, und derjenige war der weiseste unter allen Menschen, der diese Ansicht zuerst ausgesprochen hat.

 

Übergang zum selbständigen Familienleben

In der Zeit nach meiner Heimkehr von meiner weit aussehenden, aber kurz abgeschnittenen Wanderschaft war ich im Geschäfte allmälig gleichsam meines Vaters rechte Hand geworden. Nach den mancherlei Schicksalen, Mühsalen und Drangsalen seines beinahe achtzigjährigen Lebenslaufes sehnte sich derselbe nach Ruhe und machte Anstalt, mir die Mühle zu übergeben, wozu auch die Vorsorge beitrug, mich vor dem damals allgemein gefürchteten Militärstande zu sichern. Die Hoffnung, seine Sache unter meinen Händen wieder frisch gedeihen zu sehen, war die freundliche Abendröthe seines Lebens. Die Umstände drängten zu meiner Verheiratung, denn um mein väterliches Erbe mit Aussicht auf ein gutes Fortkommen antreten zu können, brauchte ich nothwendig eine Gehilfin. Sollte ich meinen Hergang auf Freiersfüβen offenherzig erzählen, so würde manches Ergötzliche zu Tage kommen. Kurz und gut, nach einigen Irrfahrten heiratete ich im Juli 1840 ein Bauernmädchen aus Proschwitz, Karolina Möller mit Namen, deren Vater Josef Möller unter die achtbarsten und angesehensten Männer des Dorfes gehörte und nebst seiner Wirtschaft einen starken Holzhandel betrieb. Die Mutter war eine seelengute Frau und eine Tochter der Scholzin Anna Rosina (2. Gattin und Witwe des Proschwitzer Scholzen Hans Adam Bergmann und Gattin des späteren Scholzen Ignaz Appelt - siehe "Gewerbe und Industrie" 1.Teil S.10).

Ich war zu jener Zeit 23 Jahre alt. Meine Aeltern mit meinen ledigen Geschwistern bezogen nach meiner Verheiratung das Oberstübchen im Hause; ich aber mit meinem jungen Weibe trat getrost und wohlgemuth die eigene Wirthschaft und das selbständige Leben an. Es war ein guter Anfang. Sehr bald brachte indessen die Schule des Lebens ihre herben Prüfungen über mich, welche ganz geeignet waren, mein weiches Naturell abzuhärten für unausbleibliche Kämpfe und Stürme.

Ende August kam ein Hochwasser und machte mir an Wehr und Wasserleitung beträchtlichen Schaden. Solche Wasserschäden haben sich in den folgenden Jahren mehrmals wiederholt, und indem sie mir die Arbeit des Sisyphus auferlegten, mein anfängliches Fortkommen sehr erschwert. Kurz darauf kehrte die Krankheit in unser Haus ein; drei meiner Schwestern lagen am Typhus darnieder; endlich ergriff die Seuche auch mein Weib und sie ward das Opfer derselben. Am 25. Januar 1841 verschied sie nach einem Krankenlager von elf Tagen. Nicht genug, auch mein Vater legte sich im Herbste 1840 noch aufs Krankenlager und segnete das Zeitliche am 12. Mai 1841.

Die Nothwendigkeit drängte auf den Ersatz meiner verlorenen Gattin, und die Wahl wurde mir nicht schwer. Ich fand sie in der jüngeren Schwester meiner ersten Frau, Agnes, welche mir nach einjähriger Witwerschaft als treue ausharrende Lebensgefährtin zur Seite trat. Die nächsten Jahre kann ich zur ruhigsten, zufriedensten und glücklichsten Zeit meines Lebens rechnen. Ich hatte damals für mein kleines Geschäft einen Gehilfen und stand selber zugleich als Meister und Arbeiter dabei. Auβerdem beschäftigte ich mich auf dem Felde und im Walde. So pflanzte ich Fruchtbäume, harte Hölzer und Waldbäume, säuberte mein Feld mit Spitze und Hammer eigenhändig von Steinen und machte ein Stück Waldgrund urbar. Ein wohlgepflegter Gemüse- und Ziergarten, den ich in Gablonz sah, bewog mich zur Anlage eines eigenen dergleichen Gartens am Mühlgraben, an welchem ich groβes Wohlgefallen hatte. An schönen Sommersonntagen wandelte ich über den Mühlberg hinauf dem Walde zu, nahm die Richtung entweder geradeaus auf den Kohlstatter Spitzberg hinauf, wo vom Kaisersteine ein schönes Stück Umgegend zu überschauen ist, oder rechts in das Maffersdorfer oder links in das Swiganer Waldrevier. Diese Waldstrecken pflegte ich meine Parks zu nennen. Meine Frau hatte unterdessen, nachdem sie aus der Frühmesse heimgekehrt, die Küche, die Wirtschaft und die Kinder besorgt, und nach dem Essen gingen wir gewöhnlich in ihr Aelternhaus und von dort auf den Proschwitzer Kamm, welcher nicht weniger interessante Waldpartien und Aussichten, wenn auch anderer Art, darbietet. Montags war dann mein regelmäβiger Gang in die Stadt.

 

Das Revolutionsjahr 1848

Ein neuer Abschnitt meines Lebens begann mit dem merkwürdigen Jahre 1848, welches mit dem Umsturze der politischen auch die gesellschaftlichen Verhältnisse gewaltig umrührte. Auch unser Österreich wurde ganz unerwartet in den Strudel der Revolution hineingezogen. Nach den groβen Erfolgen des ersten Anlaufes dieser Revolution glaubte ich das Heil der Welt angebrochen für immerdar, die Knechtschaft gebrochen, Freiheit und Gerechtigkeit zum Siege gelangt. In der Zeit ward ich aus meiner Verborgenheit einigermaβen hervorgezogen. Halb drängte mich das Verlangen nach Mittheilung hinaus in Gesellschaften, halb zog man mich dahin. Bald gewahrte man mit Verwunderung, daβ ich, der Träumer, in den Tagesfragen den besten Bescheid wuβte, und von nun an galt bei politischen Diskussionen mein Votum als entscheidend. Einige bildungseifrige junge Männer standen zu mir, darunter der Lehrer Appelt, der Bäcker Hübner aus Dörfel, mein Schwager Josef Möller, der Werkmeister Kratzert, der später nach Texas ausgewanderte August Wagner, der Student Gerhard Hopf. Wir bildeten eine Art politischen Klub, welcher zeitweilig beim Dorfrichter Anton Schäfer in Maffersdorf zusammenkam. Schäfer war eines der eifrigsten Mitglieder dieses Klubs, ausgezeichnet durch Geist, Kenntnisse und Energie. Bald wurde ein Statuten-Entwurf eingeleitet und die Organisation des Maffersdorfer politischen Lesevereins verabredet, welcher alle Donnerstage seine Sitzungen hielt vom Mai 1848 bis zum März 1849. Es war ein Klub eifrigster Demokraten, von denen jeder gern das Seinige zur Weltverbesserung beigetragen hätte.

Ich hatte die Gewohnheit, die Begebenheiten meines Lebens, wie meine Ansichten über verschiedene Zustände und Verhältnisse in Tagebuchblättern niederzuschreiben. So verfaβte ich in einer Muβestunde einen kurzen Aufsatz unter der Überschrift: "Freie Meinung eines deutschen Bewohners von Böhmen", worin ich meinem deutschen Gefühle gegenüber dem fanatischen Tschechenthume Ausdruck gab. Da ich unter meinen Freunden und in unserem Vereine Zustimmung fand und Beifall erntete, übergab ich denselben an Karl Herzig in Reichenberg. Er wurde im Reichenberger Wochenbericht abgedruckt. Also geschah mein erster schriftstellerischer Versuch, und auf diese unwillkürliche Art ist meine Feder in die Öffentlichkeit gekommen. Der Redakteur Dr. Fischer forderte mich auf, ihm mehr dergleichen Beiträge für das Blatt zu liefern, was ich den ganzen Sommer hindurch eifrig that. Ich erregte einigermaβen Aufmerksamkeit und wurde von angesehenen Personen Reichenbergs und der Umgebung aufgesucht. Unter anderen wünschte der Industrie-König Johann Liebig mich kennenzulernen. Als ich bei ihm vorsprach, musterte er mich mit zweifelndem Blicke und fragte mich zweimal, ob ich wirklich selber den betreffenden Aufsatz geschrieben habe. Es schien ihm nach meinem anspruchslosen Äuβeren sichtlich schwer zu werden, mir irgendeine Tüchtigkeit zuzutrauen. Später schien er besserer Meinung über mich zu sein, da er mir in einer Wahlversammlung zu Reichenberg nebst anderen Honorationen mit groβer Aufmerksamkeit begegnete...."

 

Ich unterbreche hier ein wenig die Erinnerungen A. Jägers. Aus den letzten Zeilen haben Sie gemerkt, daβ das Jahr 1848 in ihm groβe Hoffnungen geweckt hatte. Er hatte sich der Bewegung mit ganzem Herzen verschrieben. Umso tiefer war seine Enttäuschung, als die Ziele nicht erreicht wurden und die Reaktion in etwa die alten Zustände wieder herstellte. 20 Seiten nimmt dieses Thema in seiner Biographie ein mit Ausflügen in die europäische Politik und mit ernsten und erheiternden Begebenheiten aus Maffersdorf und Umgebung. Ich nehme den Faden wieder auf mit einigen Sätzen vom Schluβ des Kapitels über die Reaktion:

 

"...Wer nun durch unabwendbare Verhältnisse gezwungen war, gegen seine Überzeugung zu reden und zu handeln, konnte durch solche Angewöhnung leicht die ganze Wahrhaftigkeit seines Charakters einbüβen, und aus einem wohlwollenden, aufrichtigen und getreuen Menschen wurde ein Heuchler. Also hat mancher Jüngling mit den besten Anlagen den Glauben an das Gute in der Menschheit eingebüβt und ist pessimistischer Selbstsucht anheimgefallen.

 

Die Bauzeit

In der für das politische Leben trostlosen Zeit zog ich mich wieder mehr auf mich selber zurück und nahm meine Zuflucht zu meinen alten guten Freunden, zu meinen Büchern. Auch war zu derselben Zeit mein Geschäftsleben auf einem Wendepunkte angelangt. Schon mehrere Jahre hindurch hatte ich mich mit dem Plane herumgetragen, die Verbesserungen im Mühlenwesen auf meine Mühle anzuwenden. Zwei Nachbarmüller, Franz Gürtler in Maffersdorf und Joseph Weber in Habendorf, waren mir in dieser Sache bereits mit ihrem Beispiele vorangegangen. Mich selber hatte nur meine Mittellosigkeit bisher daran verhindert; da ich aber keine Aussicht hatte, die nöthigen Mittel vor dem Baue erwerben zu können, so muβte ich diesen mit erborgtem Gelde unternehmen. Es war also ein schweres Werk, als ich im Jahre 1851 einen Bau unternahm, dessen Kosten sich am Ende über 12000 Gulden beliefen, während ich bis dahin kaum mehr als 300 erübrigt hatte. Mit schwerem Herzen ging ich daran. Zwei Jahre dauerte der Bau. Diese und die nächstfolgenden waren Jahre harten, mühseligen Ringens für mich, voll von schweren Sorgen. Meine bedenkliche Lage wurde noch verschlimmert durch eine Augenkrankheit. Ich muβte Hilfe im Prager allgemeinen Krankenhause suchen. Unvergeβlich ist mir das Gefühl unaussprechlicher Seligkeit, welches ich empfand, als ich den ersten Spaziergang im Freien wieder mit unverbundenen Augen machen konnte. Von dieser Augenkrankheit blieb ein Rest auf Lebenszeit an mir haften, welches ich als meinen Theil an den unvermeidlichen Übeln des Lebens mit Ergebung getragen habe.

Im Frühjahr 1852 nahm ich meine Bauarbeiten wieder auf. Ich sparte nichts, um meinem Werke die gröβte Vollendung zu geben; aber eigene Unkenntnis und schlechte Berathung führten zu Fehlern und brachten über mich quälende Zweifel. Viele Leute betrachteten mich bereits als einen verlorenen Mann. Oft war ich der Verzweiflung nahe. Am liebsten hätte ich mich verkrochen, um nie wieder zum Vorschein zu kommen. Mein Lieblingsplan, welcher mir im Wachen und Träumen unablässig vorschwebte, war der, nach Amerika auszuwandern. Die trostlosen politischen Zustände und die verlockenden Nachrichten ausgewanderter Freunde gaben mir Sporn und Anziehung. Bei alledem handelte ich aber so, als wäre ich unabänderlich auf Lebenszeit fest an meine Scholle gekettet. Später hat sich mir öfters die Frage aufgedrängt: Was würde wohl in Amerika aus mir geworden sein? Mein mehrjähriges Bauen brachte mich endlich in den Ruf, als baue ich lediglich zum Vergnügen. Alte Leute, die mit meinem Vater jung gewesen waren, pflegten zu mir zu sagen: "Sie sind gerade wie Ihr Vater war, der schien auch nicht leben zu können, ohne zu bauen, und wenn es an seiner Sache keine nothwendigen Baulichkeiten gab, so riβ er irgend etwas ein und baute es anders."

Zu meiner eigenen freudigen Überraschung hatte ich im Verlaufe von sechs Jahren nach Beendigung des Baues alle durch denselben gemachten Schulden auf Heller und Pfennig abgetragen.

 

Die Dorfchronik

Im Jahre 1860 wurde durch H.T. Stiepel die Reichenberger Zeitung begründet, deren erste Nummer am 16. September herauskam. Da wandelte mich die Lust an, einmal einen Aufsatz für die Zeitung zu schreiben. Ich nahm dieses Mal den Stoff nicht aus der Politik, auch nicht aus dem Bereich der Volkswirthschaft, sondern aus der Geschichte und Geographie, meinen Lieblingswissenschaften; der Schauplatz war aber in meiner Heimatgegend.

Die Geschichten alter Begebenheiten, welche mein guter Vater mir im meiner Kindheit hundertmal vorerzählt, waren meinem Gedächtnisse lebhaft eingeprägt. Ich bildete mir ein, sie würden auch anderen Leuten ebenso schön, ebenso wichtig und interessant erscheinen wie mir, und indem ich sie schriftlich nacherzählte, glaubte ich, das Gedächtniβ meines geliebten Vaters fortzupflanzen. Ich faβte also einen Theil dieser traditionellen Geschichten in einem Aufsatz zusammen, dem ich eine übersichtliche Beschreibung des oberen Neiβethales voranstellte. Der Redakteur Dr. Herrmann aus Paulsdorf zeigte sich bereitwillig zur Aufnahme desselben in das Feuilleton der "Reichenberger Zeitung". Der Aufsatz fand Beifall, wodurch ich aufgemuntert wurde, meine Arbeiten in der Heimatsgeschichte fortzusetzen.

Im Jahre 1848 war ich von meinen Freunden im Maffersdorfer politischen Leseverein schon aufgefordert worden, eine Geschichte von Maffersdorf abzufassen; der wackere Akademiker Gerhard Hopf war es, welcher vorzüglich auf die Erfüllung dieses Ansinnens drang. Die Erinnerung an jene Aufforderung kam meiner Neigung zu Hilfe, und ich faβte nun den Entschluβ, alle mir bekannten oder zugänglichen aufgeschriebenen und traditionellen Begebenheiten aus dem Heimatsorte und dessen Umgebung in einem Werkchen zusammenzustellen, welches ich an meine Freunde vertheilen wollte. Zu diesem Behuf durchsuchte ich die alten Urkunden und Schöppenbücher, die Memorabilienbücher der Pfarreien und Schulen. Vieles suchte ich durch Nachfragen bei den ältesten Leuten der Gegend zu ergänzen. Endlich nahm ich die gedruckten Geschichtsbücher zur Hand, welche die Lokalgeschichte hiesiger Gegend im allgemeinen oder speziell behandeln. Es sind aber nur wenige. Während dieser Zeit änderte ich meinen Plan, denn der Stoff schwoll mir unter den Händen dergestalt an, daβ die Sache in meinen Augen an Bedeutung sehr gewann. Ich beschloβ also, mein Werk in Druck zu legen und als Dorfchronik für ein gröβeres Publikum herauszugeben. So wurde ich zum ungelehrten Geschichtsschreiber meiner Heimat.

Mittlerweile hatte ich meine Bekanntschaft bei der Redaktion der "Reichenberger Zeitung" fortgesetzt und alldort mehrmals von meinem geschichtlichen Versuche gesprochen. Ich verabredete mit Dr. Herrmann, welcher einige Jahre vorher die "Geschichte Reichenbergs" in Bearbeitung genommen, einige Proben meiner Schrift in der "Reichenberger Zeitung" zu veröffentlichen, welche von der Redaktion empfehlend beurtheilt und vom Publikum nicht ungünstig aufgenommen wurden. Dies und das aufmunternde Urtheil Sachverständiger lieβen mich hoffen, leicht einen Verleger für meine Dorfchronik zu finden.

In dieser Zeit geschah es, daβ in Prag der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen entstand, welcher die Veröffentlichung von Stadt- und Dorfchroniken unter seine Aufgaben setzte. Dieser Verein kam mir gerade zurecht, und ich schickte ungesäumt das zu zwei Drittheilen fertige Manuskript an den damaligen Präsidenten Professor Höfler zur Prüfung ein. Nach einigen Wochen brachte die Post mein theures Kleinod zurück. Mit Hast erbrach ich das Paket; nachdem ich aber die darin befindliche Zuschrift Dr. Höflers gelesen hatte, stand ich da wie mit kaltem Wasser übergossen; sie schien mir nämlich höflich abweisend zu sein. Ich sollte die "interessante Arbeit" nur vollenden und alsdann wieder an den Verein einschicken. Mittlerweile hatte ich von Pater Anton Hoffmann in Reichenberg eine Rohn'sche Chronik der Herrschaften Friedland und Reichenberg geliehen bekommen. Auch auf andere Quellenschriften wurde ich erst jetzt aufmerksam und kam hiedurch zu der Einsicht, daβ ich meine Arbeit nicht gründlich angefangen hatte. Was war zu thun? Das ganze vorhandene Manuskript wurde nun als bloβe Vorarbeit betrachtet und benützt und die Arbeit von vorn wieder angefangen. Der Eifer, der Fleiβ und die Ausdauer waren in der That gröβer als ich sie früher mir selber für irgendeine Leistung zugetraut hätte. Tagsüber benützte ich jede Viertelstunde freie Zeit dazu. Da ich aber bei Tage das Wenigste ausrichten konnte, so muβten die Nachtstunden dazu benützt werden. Da saβ ich besonders zur Winterszeit manche liebe lange halbe Nacht darüber. Sogar meine liebste Unterhaltung, die Lektüre, wurde in dieser Zeit zur Seite gesetzt, und das will gewiβ viel sagen. Dabei hatte ich viele Gänge zu machen, um Erkundigungen einzuziehen, und diese Gänge dienten mir gewissermaβen zur Erholung.

Nachdem ich bei einigen Unterbrechungen durch Baulichkeiten und andere nothwendige Geschäfte bis in das fünfte Jahr also an meinem Werke gearbeitet hatte, war dasselbe der Vollendung nahe gerückt, und ich hielt es für Zeit, dem deutschen Geschichtsvereine in Prag hievon die Anzeige zu machen. In einem Briefe an Professor Höfler stellte ich meine Arbeit neuerdings dem Vereine zur Verfügung, erhielt aber keine Antwort. Wie mir später mitgetheilt ward, hatte Höfler die Sache liegen lassen. Aufdringlichkeit war gegen meine Natur, ich verschmähte einen weiteren Versuch; es blieb mir also nichts übrig, als den Selbstverlag meines Buches vorzubereiten.

Auf einen pekuniären Gewinn für mich war es nicht abgesehen; ich bestimmte den Reinertrag für einen wohlthätigen Zweck, und die Hoffnung, für einen solchen durch diese meine Lieblingsarbeit einen namhaften Betrag zu erwerben, war mir ein starker Ansporn. Ich vertheilte Subskriptionslisten an einige Freunde, welche erbötig waren, in ihrer Bekanntschaft dafür zu werben. Aber mit Beihilfe aller guten Freunde brachte ich die Zahl aller Subskribenten kaum auf 250. In Reichenberg war die Betheiligung sehr gering; mochten sie doch ihre eigene Stadtgeschichte nicht kaufen. Groβe Hoffnungen hatte ich auf den dortigen industriellen Bildungsverein gesetzt. Sie nahmen aber ihre Feder und schrieben nur 10; in ganz Reichenberg wurden nur 20 gezeichnet, wovon später einige ihre Unterschriften ableugneten, andere die ihnen zugesendeten Lieferungen groβmüthig annahmen, ohne sie zu bezahlen. Dem armen kleinen Neuwald konnte man nicht verargen, daβ unter den sämtlichen 140 Bewohnern kein einziger Subskribent aufzutreiben war. In Proschwitz fanden sich deren sehr wenig. Die meisten Unterschriften gab Maffersdorf und hier wieder der Arbeiterstand. Unter den Nachbarortschaften entsprachen Reichenau und Gablonz am besten meinen Erwartungen. Dieser schlechte Erfolg meiner Subskription stimmte meine Erwartung wohl ein wenig herab, ohne mich jedoch zu entmutigen. Die Leute sollten nur erst sehen, dann würden sie schon zugreifen. Um mich aber vor unangenehmen Enttäuschungen möglichst sicher zu stellen, beschloβ ich, nur 500 Exemplare drucken zu lassen.

Beim Erscheinen der ersten Lieferung war ich gerade krank und muβte längere Zeit das Bett hüten und lauerte also in der Stille auf den Erfolg meines in die Welt gesendeten Werkes. Still und ohne alles Aufsehen ward es auch aufgenommen; kein erwarteter Beifall wurde laut, so gespannt ich auch immer darauf horchen mochte. Die meisten Abonnenten nahmen ihre Hefte mit Gleichgültigkeit in Empfang, die wenigsten machten sich die Mühe, sie zu lesen. Ein Theil derselben dünkte sich dafür zu gescheit, ein anderer Theil war faktisch zu dumm. Es gab genug Leute, die es zur Noth als Geschenk allenfalls angenommen hätten, um es gleichgültig in einen Winkel zu werfen. Doch blieb die erwartete Anerkennung für meine Arbeit keineswegs aus, sie kam zu meiner Befriedugung von sehr kompetenter Seite, vom Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen. Verschiedene Abtheilungen der Chronik wurden in den Vereinsmittheilungen und anderen Zeitschriften veröffentlicht. Aber auch in hiesigen Kreisen entbehrte die Dorfchronik nicht allen Beifalls. Da begegnet mir z.B. ein Mann auf der Gasse und drückt mir freundlich die Hand mit den Worten: "Ihnen muβ man gut sein, Herr Jäger, schon allein wegen Ihrer schönen Dorfchronik; es ist nur zu verwundern, wie Sie alle die erzählten Begebenheiten so wissen konnten." Ein anderer, sehr gebildeter Herr, der mich sonst gar nicht beachtet, hielt im Begegnen bei mir an mit den Worten: "Sie haben mir diese Tage mit Ihrer Dorfchronik eine rechte Freude gemacht; so viel ich Ortsgeschichten gelesen habe, hat mir doch keine so gefallen wie die Ihre."

Bei dieser Sache habe ich auch die Erfahrung gemacht, daβ das Brot des Schriftstellers meistens ein sehr bitteres ist. Vorher hatte ich mir zuweilen eingebildet, an mir sei ein Schriftsteller verdorben; diesen Fall hörte ich von nun an auf zu bedauern. Viel lieber wurde mir der Boden eines bescheidenen Handwerkes, wenn er auch nicht alleweil ein goldener Boden ist. Wenn ich selber mein jetziges Urtheil über die Dorfchronik aussprechen soll, so muβ ich gestehen, daβ ich meine anfänglich so groβen Erwartungen nicht gerechtfertigt finde. Wer will es dem Landmanne, dem Arbeiter, dem Industriellen eingenommen von vielerlei Mühen und Sorgen verargen, wenn er für die Vorgänge in seinem Geburtsorte aus früheren Zeitperioden kein groβes Interesse zeigt? Wie viel weniger aber kann man ein solches von einem Fremden verlangen? Dennoch aber dürfte mein Werkchen in seiner Art eine beachtenswerthe Erscheinung im Fache der Lokalgeschichtsschreibung bleiben."

Einsam hab' ich, was ich schrieb, geschrieben
Für mich selbst und wen'ge, die mich lieben.

 

Jäger endet seine Lebensbeschreibung mit einem Schluβwort, in dem es heiβt: 

"Ich fühle noch manches in mir: Gedanken, Ideen, Ansichten, Meinungen, Erinnerungen, die ich nicht gerne mit mir in das Grab nehmen möchte, die ich für werth halte, daβ sie fortleben. Sie zu Papier zu bringen, ist ein für meinen Lebensabend bestimmtes Geschäft; wer weiβ, ob das Leben mir die Muβe dazu gewähren wird?"

 

Jedoch schon am 19.11.1872 ist er 55jährig in Maffersdorf gestorben, 7 Jahre nach Fertigstellung seiner Chronik und 4 Jahre nach der Niederschrift "Meine Bildungsgeschichte". Diese wurde 2 Jahre nach seinem Tode als Separatausgabe aus den Mittheilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen gedruckt. Der Herausgeber, Dr. Ludwig Schlesinger, meint in der Fuβnote zur Einleitung u.a.: "Jäger war eine durchaus ungewöhnliche Erscheinung. Aus dem Volke hervorgegangen und mitten in demselben stehend, dessen Leben und Streben mit hingebender Liebe betrachtend, und gewohnt, in allem die Wechselbeziehungen zwischen Ursache und Wirkung zu erforschen, drängte es ihn, die Verhältnisse der Gegenwart durch Aufhellung der Vergangenheit zu beleuchten. Sein noch ungedruckter Nachlaβ birgt noch manch Köstliches. Die Perle unter Jägers Schriften dürfte wohl aber seine "Bildungsgeschichte" sein, durch deren Veröffentlichung wir das Andenken dieses seltenen, edlen Mannes am meisten zu ehren glauben."

Ich muβte die 84 Seiten von Jägers Bildungsgeschichte stark kürzen, hoffe aber, daβ ich Ihnen den Menschen Anton Jäger trotzdem lebendig werden lassen konnte, weil ich seine eigene Sprache benützte, auch mit der altertümlichen Schreibweise.

 

Copyright © by Inge Schwarz 1997 (Heimatstelle Maffersdorf) 

Zurück ] Nach oben ] Weiter ]

   ZUM SEITENANFANG    ZUM INHALTSVERZEICHNIS    ZUR ÜBERSICHT  
HEIM

 

MAFFERSDORF - Marktgemeinde im Landkreis Reichenberg - SUDETENLAND