Ich kann die
Chronik natürlich nicht anders abschlie βen
als mit der Lebensgeschichte des Mannes, dem wir so viel
Wissen über die Vergangenheit Maffersdorfs verdanken, und
ohne dessen Werk ich nicht imstande gewesen wäre, die Hefte
über Maffersdorf zu schreiben. Zu danken ist dabei aber auch
den Menschen, die in ihrer Heimatliebe solche Bücher wie die
Jäger'sche Chronik im Vertriebenengepäck mitgenommen haben.
Anton Jäger hat neben seiner Chronik auch "Meine
Bildungsgeschichte" geschrieben. Dr. Ludwig Schlesinger
hat sie 1874 - zwei Jahre nach Jägers Tod - herausgegeben als
Separatausgabe aus den Mitteilungen des Vereines für
Geschichte der Deutschen in Böhmen (Jahrg. XII 1-4). Ich
möchte das Lebensbild Jägers mit seinen eigenen Worten
zeichnen, weil es ihm so vielleicht am ehesten gerecht wird
und auch seine wunderbare Sprache wiedergibt. Natürlich muβ
ich sehr stark kürzen.
ANTON
JÄGER
*
1817 †
1872
Meine
Bildungsgeschichte
Der Tag,
welcher mich zur Welt brachte, war der 14. April 1817. - Aus
der ersten Zeit meines Lebens wei β
ich in geistiger Beziehung keinen besonderen Umstand anzugeben
als nur allein eine auβerordentliche Wiβbegierde,
welche ich schon zu äuβern anfing, sobald ich nur der
Sprache mächtig war. Da in unserem Hause mein Vater diejenige
Person war, welche am meisten wuβte und kannte, so war er
es vorzüglich, an welchen ich als kleiner Knabe mich mit
unzähligen Fragen wendete. Hundertmal stand ich zur
Winterszeit neben ihm auf der Ofenbank , mich an seine Knie
anschmiegend und eine Frage nach der anderen an ihn richtend.
Mein Vater besaβ in der That mehr Kenntnisse als andere
Dorfmänner seiner Zeit und seines Ortes. Er war ziemlich
belesen, hatte viel erlebt und, da er im Alter mir um 55 Jahre
voraus war, wuβte besonders aus alten Zeiten gar manches
zu erzählen. Durch seine Mittheilungen hat er vieles von
seinem Wesen auf mich vererbt, was in mir fortlebt und
fortwirkt, und hauptsächlich die durch ihn erhaltenen
Traditionen waren es, welche mich zu meinen
lokalgeschichtlichen Arbeiten veranlaβten.
Die
Schulzeit
Die Schule, in
welcher ich meinen Unterricht erhielt, wurde als Filiale der
Maffersdorfer Schule im Bauernhause Nr. 37 in Proschwitz
gehalten. Ein Schulgehilf kam täglich zweimal von Maffersdorf
herauf. Sehr bald lernte ich die Buchstaben kennen und ohne
Ansto β
lesen. Nicht so leicht ging es mit dem Rechnen. Ich kann mich
nicht rühmen,
zu den befähigsten Schülern gehört zu haben, wie denn
überhaupt meine geistige Entwicklung langsam vor sich ging.
Mehrere meiner Mitschüler kamen mir an Kenntnissen ziemlich
weit voraus, weil ihnen das Lernen leichter wurde als mir,
aber die wenigsten haben ihren Vorsprung später gegen mich
behauptet, da ihre Ausdauer der meinigen nicht gleichkam, und
ihre Lernbegier nicht, so wie die meinige, mit den reiferen
Jahren zunahm.
Zu Anfang
meiner Schulzeit kam Stephan Sommer als Kaplan nach
Maffersdorf und übernahm den Religionsunterricht in den
beiden Schulen des Kirchsprengels. Er konnte als das Muster
eines Priesters in des Wortes edelster Bedeutung gelten. Dabei
war er ein ganz besonderer Kinderfreund. In Erkenntnis der
nützlichen Wirkung guter Schriften schaffte er aus eigenen
spärlichen Mitteln eine Sammlung von Volks- und
Jugendschriften an. Die fähigsten Schüler fa βte
P. Sommer besonders ins Auge und bewog die Eltern einiger
talentvoller Knaben, diese studieren zu lassen, so Plischke
aus Maffersdorf und Pfeiffer aus Kunnersdorf, welche beide
nachher in den geistlichen Stand traten. Josef Hoier, der Sohn
aus dem Schulhause, widmete sich dem Lehrfache; Augustin
Wagner aus meiner nächsten Nachbarschaft, der Sohn armer und
dabei sehr frommer Leute, sollte nach dem Herzenswunsche
seiner Eltern ebenfalls ein "Pater" werden, faβte
jedoch zum Leidwesen derselben nach beendeten Gymnasialstudien
eine so unüberwindliche Abneigung gegen diesen Stand, daβ
er seine Studien aufgab und sich lieber zu Hause hinter den
Webstuhl setzte. Später nahm er dieselben wieder auf, und
zwar verlegte er sich auf die Chirurgie, verfiel jedoch in
eine Krankheit und erreichte eher das Ziel seiner Lebensbahn
als das seiner Ausbildung. Er starb in der Blüthe seines
Alters zu Prag im Jahre 1845. Ich gedenke seiner als eines
treuen, aufrichtigen Freundes. Ein anderer Mitschüler, Pilz
mit Namen, war durch ganz vorzügliche Fähigkeiten
ausgezeichnet, welche jedoch unter dem Drucke der Armuth
verkümmern muβten. Er war nach seinem Austritte aus der
Schule eine Zeitlang dem Lehrer beim Unterrichte behilflich,
und es hätte nur einer kleinen Nachhilfe bedurft, um einen
solchen aus ihm zu machen. Diese kam ihm jedoch von keiner
Seite, und er blieb in der elenden Hütte seines Vaters, wo er
sich durch Abschreiben und selbsterlernte Buchbinderei
ärmlich ernährte. Er schrieb Gebetbücher in Druckschrift
ab, zeichnete die Holzschnitte mit Tinte hinein und band sie
hernach ein. Ein solches sauber geschriebenes Gebetbuch durfte
aber fix und fertig nicht theurer kommen als ein gedrucktes,
wonach der Verdienst des armen Pilz beurtheilt werden kann.
Auch seines Vaters will ich in einigen Worten gedenken. Dieser
konnte weder lesen noch schreiben, aber desto besser singen.
Er ging von Zeit zu Zeit in den Häusern des Ortes und der
Umgebung herum und sang um ein Stück Brot Volkslieder in der
hiesigen Mundart, kurzweilige und heilige, traurige und
schaurige im bunten Gemisch durcheinander. Er machte dabei so
seltsame Grimassen, daβ niemend dabei ohne Lachen auf ihn
sehen konnte.
Au βer
meinen Schulbüchern
und den vom gütigen P. Sommer mir geliehenen Jugendschriften
kamen mir während meiner Schulzeit wenig Bücher in die
Hände; unter diesen wenigen aber befand sich eine
Lutherbibel, welche sich wahrscheinlich noch aus den Zeiten
des Protestantismus in einem Nachbarhause erhalten hatte. Ich
las als kleiner Knabe viel in derselben und wurde dadurch
besser mit dieser merkwürdigen ältesten Urkunde des
Menschengeschlechts bekannt, als wenn sie mir später unter
der Menge anderer Bücher vorgekommen wäre. Eine der
vortrefflichsten, zweckentsprechendsten Jugendschriften ist
unstreitig Kampe's Robinson der Jüngere, welchen ich auch
frühzeitig aus der Sammlung P. Sommer's zum Lesen erhielt.
Wie öffnet dieses Buch dem Knaben im abgelegenen Gebirgsthale
die Aussicht in die weite Welt mit ihren Wundern und ihrer
Herrlichkeit.
Mit Vergnügen
betrachtete ich schöne Bildwerke und versuchte bald, solche
mit Bleistift, Tinte und Röthel nachzuzeichnen. Als der Vater
dieses bemerkte, kaufte er mir Tuschfarben, womit ich im
Winter sehr emsig in Papier ausgeschnittene Krippelfiguren
malte. Mein Krippel machte mir über Winter gro βes
Vergnügen und viel Unterhaltung. Ich wallfahrte sonntags in
der nahen und fernen Nachbarschaft von einer Krippe zur
anderen, und wo mir eine Figur, eine Hirtengruppe, ein Baum
oder eine Landschaft besonders gefiel, die muβte mein
werden durch Nachbildung.
Ebenso machte ich es mit den Bildwerken in der Kirche, auf
denen meine Augen in wahrer Kunstandacht beständig
herumschweiften. Für die wenigen Kreuzer, die ich etwa in der
Tasche hatte, kaufte ich mir Farben und Papier, und zu Hause
ging es dann an ein Farbereiben, Zeichnen, Ausschneiden und
Pinseln, welches den ganzen Sonntag und noch einen Theil der
Nacht emsig fortgesetzt wurde.
Weniger Trieb
als zur bildenden Kunst fühlte ich zur Musik. Mein Vater
erheiterte sich manche Stunde an seinem Violinspiel. Wenn er
nach beendetem Spiel sein Instrument an die Wand hing, pflegte
er öfters mit einem bedeutsamen Blick auf mich zu sagen:
"Wenn ich mein Spiel nur einem Kinde vererben
könnte!" - Seine Vermögensumstände erlaubten keinen
Musikunterricht für mich.
Die
Lehrzeit
Als meine
Schulzeit sich ihrem Ende nahte, mu βte
die Frage zur Entscheidung kommen, was aus mir werden sollte.
Die väterliche Mühle war für meinen Bruder Franz bestimmt,
und in Betracht meiner Lernbegier trug sich mein Vater
längere Zeit mit dem Gedanken, mich studieren zu lassen. Doch
als Bruder Franz die ihm zugedachte Mühle ablehnte, so
entschied dieser Umstand endgültig für meinen Beruf als
Müller. Das Joch, welches ich freudig auf meine jungen
Schultern nahm, war vorerst kein drückendes; denn unsere
abgelegene Mühle wurde jenerzeit nur schwach betrieben, und
mir blieb dabei Zeit genug, meinen Lieblingsneigungen
nachzuhängen. Dennoch war es in gesundheitlicher Beziehung
ein übles Geschick, welches mich so jung ins stauberfüllte
Mahlhaus bannte. Doch solche Erwägungen konnten nicht maβgebend
sein in einer Familie, die mit materiellen Kümmernissen
zu kämpfen hatte; noch weniger konnte für meine weitere
geistige Ausbildung etwas geschehen; diese blieb allein meinem
eigenen Streben überlassen, welchem etwa Zufall oder Fügung
zu Hilfe kam.
So sehr auch
mein Geist nach Wissenschaft hungerte und dürstete, so hatte
ich in meinen abgeschiedenen Verhältnissen doch keinen
Begriff von der Unerschöpflichkeit dieser geistigen
Nahrungsquelle. Aber ich konnte ja lesen und hatte also den
Schlüssel zu allem Wissenswerthen. Kampe's Robinson hatte das
Verlangen in mir wachgerufen, fremde Länder und Völker
(freilich nur aus Beschreibungen) kennen zu lernen. Im selben
Buche ist von einer Landkarte die Rede, und indem mir mein
Vater auf mein Befragen erklärte, was das eigentlich sei,
wurde ich sehr neugierig, eine solche zu sehen. Da geschah es,
da β
ich einmal nach Reichenberg zum Jahrmarkte ging und dort vor
einer Bilderbude stand. Unter den Bildern hingen einige Bögen
mit verschiedenen krummen, geraden, geschlängelten Linien,
Punkten und anderen Zeichen, in welchen ich bei genauer
Betrachtung Landkarten erkannte. Meine Freude über die
Entdeckung war groβ, und es war gut, daβ sie nicht
theuer waren und ich einiges Geld bei mir hatte.
Ich kaufte einen Planiglobus,eine Karte von Deutschland und
Europa, das Stück um einen Zehner. Mit einem Gefühle, als
wäre die ganze Erde mein eigen, eilte ich damit nach Hause;
und hier wurde der gefundene Schatz Gegenstand meines
eifrigsten Studiums. Als ich erfuhr, in Friedland halte ein
Buchbinder ein Lager von Jugendschriften, war mir der lange
Weg bis dorthin gar nicht zu weit, ich machte mich eines
Sonntagsmorgens auf die Beine und pilgerte gen Friedland, fand
auch den Buchbinder, that aber keinen glücklichen Griff, denn
es waren ziemlich seichte Machwerke, die ich nach Hause trug.
In der Zeit,
da es mir an Lesestoff gebrach, beschäftigte ich mich auf
andere Weise mit den Büchern: ich schrieb sie ab. So that ich
es z.B. mit einigen Erzählungen von Christoph Schmid, die ich
von P.Sommer geborgt erhielt. So kam ich zu Büchern, ohne da β
ich sie zu kaufen brauchte. Aber wieviel Besseres hätte ich
in der dabei verlorenen Zeit ausrichten können! Damals
geschah es auch, daβ mir ein Buch in die Hände kam,
welches mir den Vorhang vor dem unbekannten Reiche der
Wissenschaft ein wenig lüftete: ein alter Kalender, Jurende's
vaterländischer Pilger für 1826, eine Sammlung von
Aufsätzen aus verschiedenen Werken und Zeitschriften über
vielerlei Gegenstände der Wissenschaft, Kunst und Literatur.
Viele hundert Stunden saβ ich über diesem Buche, so daβ
ich am Ende den Inhalt zum gröβten Theile meinem
Gedächtnisse eingeprägt hatte. Inzwischen kam ich wieder auf
die Spur jenes Buchbinders, dem ich auf dem Reichenberger
Markt mein erstes Buch abgekauft, und dessen Erscheinung ich
nachdem so lange vergeblich gesucht hatte. Es war der
Buchbinder josef Klöbl; derselbe hielt in Reichenberg bei
seinem Geschäft auch eine Leihbibliothek, durch welche meiner
Noth um Lesestoff nunmehr gründlich abgeholfen wurde. Ich
benützte sie mit meinem damaligen Kameraden Franz Plischke,
welcher nachher Baumeister wurde und später nach Amerika
auswanderte. Bei alledem fuhr ich fort, in freien Stunden fleiβig
zu malen und zu zeichnen.
Nun habe ich
noch einer Jugendliebhaberei zu erwähnen, nämlich des
Theaterwesens.- Ein ehemaliger Schulkamerad meines Vaters, der
Bleicher Josef Wagner aus dem Hause Nr.1 in Neuwald, pflegte
jenen öfters zu besuchen. Wagner war ein aktiver Theilnehmer
des vor Zeiten aufgeführten Passionsspieles gewesen, wobei
ihm zuletzt die Rolle des Pilatus zugetheilt war. Wagner
brachte einmal das geschriebene Manuskript des Spieles,
welches ich mit gro βem
Interesse durchlas. Wie hiedurch meine Aufmerksamkeit auf
theatralische Vorstellungen hingelenkt wurde, so war es mir
ein groβes Ereignis, als einmal eine herumziehende
Schauspielerbande in unserem Dorfe haltmachte und in einem
Bauernhause mit groβer Stube ihre Schaubühne aufschlug.
Ich gehörte zu den fleiβigsten Besuchern. Ich hatte wohl
auch den Einfall, selber ein Schauspieler zu werden; aber,
beiläufig gesagt, hätte ich zu nichts in der Welt weniger
gepaβt als zu einem solchen. In wie ganz anderem Lichte
erschien mir das alles, nachdem ich gute Schauspieler auf den
groβen Theatern gesehen und die Meisterwerke unserer
Dichter gelesen hatte.
Wie vertrugen
sich aber alle diese Beschäftigungen mit meinen
Berufsarbeiten? Sie durften denselben nicht viel Abbruch thun.
Ich lernte unschwer die bei der Müllerei nothwendigen
Verrichtungen, half meinem Vater bei der Brettsäge, welche
damals neben der Mühle bestand, und mu βte
auch bei cen Feldarbeiten mit zugreifen; besonders gern beschäftigte
ich mich mit den Holzarbeiten im Walde. Freilich schaute ich
manchmal auch länger in die Bücher, als dem Vater lieb war.
So verstrichen meine drei Lehrjahre und noch zwei Jahre
darauf.
Die
Wanderzeit
Aus den
Länder- und Reisebeschreibungen, welche ich mit Vorliebe
gelesen, auch aus den Erzählungen wandernder Gesellen, welche
oft genug in der Mühle meines Vaters übernachteten, wu βte
ich so viel Merkwürdiges und Interessantes über andere
Gegenden und fremde Länder, daβ ich groβes
Verlangen trug, es bald mit eigenen Augen zu sehen. Seit
meiner Freisprechung von der Lehre lag ich meinem Vater mit
Bitten in den Ohren, er wolle mir erlauben, in die Fremde zu
gehen. Ich glaubte vergehen zu müssen vor ungeduldiger
Sehnsucht nach der Ferne. Da ich mich schlechterdings nicht
mehr halten lieβ, wurde mein Reisebündel gepackt und mit
einer weiβen Schürze umwickelt. Das Reisegeld - zwei
Speziesthaler - nähte mir die Mutter in den Hosengurt,
während der Vater mir einprägte, nur im äuβersten
Nothfalle es anzugreifen. Nach dem Mittage hing ich mein
Bündel nach Müllerart über die linke Schulter, nahm in die
rechte Hand den Wanderstab und trat wohlgemuth meine Reise ins
Blaue an. Mir gefiel es ganz wohl dieses Wandern, und ich
legte manche Meile Weges zurück. Zuerst durchstreifte ich das
nördliche Böhmen von Osten, aus der Heimat, gen Westen. Es
war ein schöner Sommerabend, als ich den Hasenberg im
Leitmeritzer Kreise bestieg, welcher mit den Ruinen der
Hasenburg gekrönt ist. Es gefiel mir so wohl in den alten
Gemäuern, daβ ich ohne Bedenken mein Nachtlager zwischen
denselben aufschlug. Dieses freie Nachtlager, das
Wanderbündel als Kopfkissen, das Röcklein als Decke
gebraucht, den klaren Sternhimmel über mir, gefiel mir so
wohl, daβ ich es auf meiner Reise aus purer Liebhaberei
etliche Male wiederholte.
Auf dem Markte in Leitmeritz traf ich einen Büchertrödler,
der mir gerade recht war. Von ihm kaufte ich eine Karte von
Böhmen und und vom Erzherzogthum Österreich; auf diesen
Karten konnte ich nun meine Marschrouten absehen, ohne erst
viel fragen zu müssen. Ferner kaufte ich von demselben Manne
eine alte Länderbeschreibung des Kaiserthums Österreich. So
konnte ich nun die eigene Anschauung der Städte und Gegenden,
die ich durchzog, mit der Beschreibung vergleichen.
Von Leitmeritz
ging meine Reise über Teplitz, Brüx, Komotau, Saaz,
Karlsbad, Marienbad, Pilsen, Klattau, wie die mäandrich
geschlängelten Bäche und Flüsse mich führten. Im
südlichen Böhmerwalde passierte ich unweit Winterberg die
Grenze des Erzherzogthums Österreich. Es war ein sehr
anmuthiges Thal, welches mir von der Höhe des Gebirges
drüben zuerst sichtbar wurde, in welchem der Markt Aigen, in
dessen Nähe das idyllische Kloster Schlögel liegt. Ich
folgte der Mühl bis zu ihrer Mündung in die Donau unweit
Linz. Nachdem ich die Landschaft von Steier bis St. Pölten
und Krems durchstreift, fuhr ich von letzterer Stadt mit einem
bairischen Getreideschiffe auf der Donau bis Klosterneuburg
hinunter und hielt sodann Einzug in die Metropole
Österreichs.
Wien sah ich
diesesmal nur auswendig, denn meine Unerfahrenheit wu βte
sich die Sehenswürdigkeiten der Stadt nicht zugänglich zu
machen; doch bestieg ich den Stephansturm und den Leopoldsberg,
und dann wollte ich durch das Alpenland auf die Seestadt
Triest zusteuern. Da machte mir das Schicksal einen Strich
durch die Rechnung; ob zum Guten oder zum Schlimmen kann ich
nicht sagen: mein Wanderbuch war verlorengegangen. Da ich nun
ohne Reisedokument nicht weiter fort konnte und mir um Ersatz
des verlorenen Wanderbuches keinen Rat wuβte, so muβte
ich mich zur Rückreise entschlieβen, die ich auf der
geraden Straβe über Znaim, Iglau und Czaslau einschlug
und zu Fuβ in sieben Tagen vollendete. Als ich den Mühlberg
herunterging, aus dem Walde heraustrat und die väterliche
Wohnung vor mir liegen sah, da kam mir alles so fremd vor, als
wäre ich jahrelang nicht da gewesen.
Saure
Wochen
Zu Hause war
gro βes
Verlangen nach mir; meine Eltern und Geschwister hatten groβe
Sorge um mich ausgestanden, weil ich die ganze Zeit meiner
Abwesenheit nichts hatte von mir hören
lassen. Ich traf die in gewöhnlicher Zeit oft leer stehende
Mühle gefüllt mit Getreidesäcken, und so fand ich bei
meiner Wiederkehr offene Arme und eine offene Stelle. Nun
folgten sieben Wochen harter Arbeitszeit, während welcher ich
beinahe nicht aus dem stauberfüllten Mahlhause herauskommen
konnte, wobei mein längster Schlaf ohne Unterbrechung kaum
eine halbe Stunde währte. Es war ein schweres Opfer an Kraft
und Gesundheit, welches ich unserer Familie darbrachte in der
Blüthe meines Jünglingsalters, wo der Körper in der
Ausbildung, im besten Wachsthume begriffen war. Zeitlebens
habe ich an den nachtheiligen Folgen der Überanstrengung zu
tragen. O warum war niemand da, der mich vor diesem Übel
bewahren konnte! Warum lehrte mich niemand der Sorge für
meine Gesundheit alle anderen Sorgen nachzusetzen?
Endlich wurde
es denn doch eingesehen, da β
meinem jungen Körper zu viel Anstrengung zugemuthet ward, und
ich erhielt für meine Arbeiten bei der Mühle einen Gehilfen.
Mit der Vollendung meiner Wanderschaft war es fortan nichts,
denn ich war unentbehrlich im Hause. Als mir meine
Berufsgeschäfte wieder einige Muβe vergönnten,
nahm ich mit erneutem Eifer die Bücher nebst Stift und Pinsel
wieder zur Hand.
Weitere
Fortbildung
Die im Jahre
1837 in Reichenberg etablierte "von Sr.k.k. Majestät
allergnädigst konzessionierte Buchhandlung des Benedikt
Pfeiffner" kam mir vor, als ob sie eigens für mich
eingerichtet worden wäre. Von meinem Verdienste gab ich gerne
keinen Kreuzer auf andere als schlechterdings unentbehrliche
Sachen aus, um nur einiges Geld zur Anschaffung von Büchern
zu erübrigen. Von dieser Zeit datiert der kleine Anfang
meiner gro βen
Büchersammlung.
Ich machte mir im Hause ein kleines Kämmerchen für meine
Bücher zurecht, und dort verbrachte ich manche Stunde
einsamen Stillvergnügens. Eines der ersten Werke, welches ich
in der neuen Buchhandlung pränumerierte, war das
"Bilder=Conversations=Lexikon" - ein Auszug aus dem
bekannten Brockhaus'schen Conversationslexikon. Durch dieses
Lexikon gelangte ich nun zur Kenntnis der Koryphäen der
Literatur und verschiedener Wissenschaften, die mir bisher
beinahe fremd gewesen waren.
Unter den
Wissenschaften war es vor allem anderen die Erd- und
Völkerkunde, welcher ich mit flei βigem
Studium oblag. Ebenso gründlich verfuhr ich mit der
Geschichtskunde. Zuvörderst war es die deutsche Geschichte,
welche mein gröβtes Interesse erregte, so wurde hiedurch
mein deutsches Nationalgefühl unabänderlich befestigt. Mit
nicht geringerer Lust und Liebe warf ich mich auf die
Naturwissenschaften. Die Kenntnis von dem Bau des menschlichen
und thierischen Körpers, von den Organen desselben und ihren
Verrichtungen, von den Naturgesetzen und Naturkräften
verschaffte mir die angenehmste Unterhaltung, die sich denken
läβt. Vor allen anderen zog mich aber die erhabenste
aller Wissenschaften an, die Astronomie. Welche Bewunderung,
welches Staunen, welch' ahnungsvolle Schauer überliefen
meine Seele, als ich den Bau, die Anordnung des Weltalls
kennen lernte.
Zwischen
meiner wissenschaftlichen Lektüre verwendete ich einen gro βen
Theil meiner freien Zeit auf die schöne Literatur. Ein Schatz
derselben um den anderen wurde von mir gehoben, und bei jeder
neuen Ausbeute wurde meine Freude erneuert und vergröβert.
Mit gehaltlosen Romanen mochte ich mich nimmer abgeben; kam
ich über
ein Buch, welches keine veredelnde Wirkung auf mich ausübte,
das ward alsbald zur Seite gelegt. - Auch die schöne
Literatur der Griechen und Römer blieb mir natürlich nicht
unbekannt. Unter den Zeitschriften war mir die Gartenlaube vom
Anfang die liebste Hausfreundin.
Wie vertrugen
sich aber meine Selbststudien mit meinen Berufsgeschäften?
Sie nahmen diesen allerdings manche Stunde Zeit weg; ein gro βer
Theil der darauf verwendeten Zeit war jedoch solche Zeit,
welche die meisten Menschen gewöhnlich anderen Vergnügungen,
Gewohnheiten und Neigungen zu opfern pflegen, wofür ich wenig
oder gar keinen Sinn hatte, z.B. dem Spiel und mancherlei
gutem oder schlechtem Zeitvertreib. - Meine Bücher kosten
mich freilich auch ein schönes Geld, das war jedoch wiederum
solches Geld, welches andere meines Gleichen für Trunk, Tabak
und ähnliche Genüsse ausgaben, wofür ich wenig oder nichts
brauchte; auch war ich ohne groβe Überwindung imstande,
einem erwünschten Buche zu Liebe meine wirklichen
Bedürfnisse einzuschränken. Ich hatte z.B. geschäftehalber
regelmäβig den Reichenberger Wochenmarkt zu besuchen.
Dabei wurde jedesmal auch die Buchhandlung besucht; kam mir
nun in derselben ein Buch vor, nach dem ich groβes
Verlangen trug, ohne daβ meine Mittel mir die Ausgabe
dafür erlauben wollten, so trat ich kurz entschlossen für
den geistigen Genuβ mit einer leiblichen Entsagung ein,
indem ich nach abgethanen Geschäften ohne Einkehr und Zehrung
nach Hause ging, und das so oft, bis der Preis des Buches
erspart war. Es war mir immer unbegreiflich, wie ein für
einen wissenschaftlichen Beruf gebildeter Mensch die
Wissenschaft nachhher so gänzlich an den Nagel hängen kann
und sein Geschäft als Arzt, Rechtsgelehrter, Seelsorger,
Lehrer u.s.w. rein handwerksmäβig betreibt, ohne sich um
den Fortschritt im geringsten zu kümmern.
Selbstschau
Willst
du dich selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben,
Willst du die andern verstehn, blick in dein eigenes Herz.
Ich kann von
mir sagen, da β
ich das Gute stets redlich gewollt habe, und auch mein Glaube
an das Gute ist jederzeit unerschütterlich
geblieben; doch vermochte ich es nicht immer zu treffen und in
meinen Handlungen auszuprägen. Nach meinem Fehler empfand ich
allemal tiefe Reue und konnte mich nur mit dem beruhigen, was
der Spruch ausdrückt:
"Das
sind die Weisen,
die aus Irrthum zur Wahrheit reisen.
Die bei dem Irrthum verharren,
das sind die Narren."
In meiner
Abgeschiedenheit hatte ich mir wenig Kenntnis der
Umgangsformen und Weltklugheit erworben, und ich konnte eine
gewisse Blödigkeit und Unbeholfenheit im Umgange nie ganz los
werden, selber dann nicht, als das Geschäftsleben schon sehr
an mir geschliffen hatte. Dazu kamen verschiedene andere
Eigenheiten, die mir vor der Welt das Ansehen eines
Sonderlings geben konnten. Ich sah diese Eigenheiten kaum als
Fehler an und bemühte mich also nicht sehr um ihre
Abgewöhnung.
Ein braver
Mann zu sein im Sinne des bekannten Studentenliedes, de β
kann ich mich durchaus nicht rühmen, da ich niemals in meinem
ganzen Leben einen eigentlichen Rausch gehabt. Bier trank ich
immer sehr wenig, den Wein liebte ich nicht, und den
Branntwein konnte ich nicht leiden. Schwelgerei war also nicht
mein Fehler, weder im Trinken noch im Essen. Auch bin ich in
dieser Hinsicht nicht sehr tolerant, ein Trunkenbold war mir
immer unausstehlich. Niemals kam ich in Versuchung aus dem
Tabakrauchen ein Genuβmittel zu machen, noch viel weniger
mochte ich vom Schnupfen dieses gepulverten Unkrauts wissen,
ganz zu geschweigen der Gewohnheit den giftigen Saft desselben
auszukauen. Da ich nun auch das Spiel für bloβe
Zeitverschwendung halte, so konnten gewöhnliche
Gesellschaften wenig Anziehung auf mich ausüben. Eine
gebildete Gesellschaft, worin vernünftige Gespräche über
Politik, Religion, Literatur, Kunst und Wissenschaft geführt
wurden, ja, das war etwas anderes, eine solche zog mich an;
war die Heiterkeit dabei vorherrschend, desto lieber!
Mein Herz zog
mich immer zu dem armen Volke hin. Es ist wahr, da β
viel Rohheit unter demselben gefunden wird, es ist aber nicht
seine Schuld. Ich habe in sogenannter guter Gesellschaft
zuweilen schmutzigere Zoten anhören
müssen, als in ungebildeten Kreisen, dort aber nicht dasselbe
Wohlwollen, dieselbe Gutmüthigkeit, Aufrichtigkeit und
Treuherzigkeit angetroffen wie hier. Mein Sinn war stets auf
Einfachheit und Natürlichkeit gerichtet.
Bei meiner gro βen
Vorliebe für das Studieren vernachlässigte ich jedoch nicht
das Handtieren und war jederzeit ein Freund und Liebhaber der
Handarbeit, die ich als vorzügliches Mittel zum Wohlsein von
Geist und Körper betrachte. Arbeit ist die heiligste
Verrichtung, jede nützliche Thätigkeit wirket beglückend
auf den Menschen; als die beglückendste von allen
Beschäftigungen erscheint mir aber die segenbringende Arbeit
des Landmannes. Mir gilt das Landleben als ein glückliches
Los; den dauernden Aufenthalt in einer groβen Stadt würde
ich als halbe Gefangenschaft angesehen haben.
Meine
Weltanschauung ist das Produkt meiner Selbstbildung durch die
Schriften weiser Männer aller Zeiten und Nationen; sie ist,
was man eine optimistische Weltanschaung nennt, das hei βt:
mir kommt die Welt und das Leben schön vor trotz allem
vermeidlichen und unvermeidlichen Übel, welches noch darin
wurzelt. Wie wird jeder Mensch das Glück seines Daseins genieβen
können,
wenn erst die Menschheit auf dem Wege der Humanität weiter
vorgeschritten sein wird, auf welchem sie sich, wie uns die
Geschichte beweist, trotz aller Abirrungen dennoch fortbewegt,
dem schönen Ziele einer glücklichen Zukunft entgegen.
Ich habe
besonders der Politik und Religion immer gro βe
Aufmerksamkeit zugewendet. Freiheit und Fortschritt steht auf
der Fahne, zu welcher ich unwandelbar gehalten habe. Nur
allein solche Helden, wie Washington, Garibaldi und ihres
Gleichen, erregten meine Bewunderung und Verehrung, aber gegen
Völkergeiβeln und Verräther an der Freiheit und wahren
Humanität, wie Cäsar und Napoleon und andere ihrer Art,
gegen diese konnte ich nur Abscheu empfinden. Das
Waffenhandwerk für den Dienst ränkevoller Kabinettspolitik
halte ich für eine schlechte Sache, daβ ich nicht
begreife, wie ein humaner Mensch sich freiwillig zum
Kriegsknechte verkaufen kann. Als Österreicher gehörte ich
nicht zu den besten Patrioten. Bei mir steht das Deutschthum
immer über dem Österreicherthum. Von anderen Nationen haben
die tüchtigen Engländer meinen besonderen Beifall; weniger
die eitlen, leichtfertigen Franzosen. Das Einigungswerk der
zerschlagenen, miβhandelten Italiener verfolgte ich mit
groβer Theilnahme; der Slaven kann ich nur mit Miβtrauen
gedenken, da sie voll Deutschenhaβ sind. Die Lehren des
Kommunismus und Sozialismus machten mich für den Augenblick
betroffen; aber bald sah ich ein, daβ sich diese
Propheten der Gleichmacherei auf dem Holzwege befinden. Wenn
dereinst die Milliarden, welche für das Militärwesen auf
Zerstörungszwecke verausgabt werden, auf Bildungsanstalten
für das Volk und auf Versorgungsanstalten für invalide
Arbeiter verwendet werden, dann wird es gewiβ viel
weniger Noth und Elend in der Welt geben.
Ich komme nun
auf meine religiösen Ansichten. In meiner Jugendzeit hielt
ich alle durch den Religionsunterricht in der Schule
erfahrenen Satzungen für lauter unbezweifelte Wahrheiten. Das
dauerte so lange, bis ich über Natur und Welt tiefer
nachdenken lernte, dann stiegen unwillkürlich verschiedene
Zweifel in meiner Seele auf. Der Seelenzustand, in welchen ich
durch diese Betrachtungen und Zweifel gerieth, war durchaus
nicht befriedigend, ja, er ist bei manchen Menschen aus dem
gleichen Anlasse eigentlich ein verzweifelter geworden. Wer
verschiedene, in kindlicher Einfalt als Wahrheiten eingelernte
Lehrsätze nachher bei genauerer Einsicht als Irrthümer
erkennen mu βte,
wird den nicht Miβtrauen beschleichen gegen das ganze
Lehrgebäude? So haben quälende Zweifel manchen Menschen
ungewiβ und irre gemacht über
seine Bestimmung, über den Zweck seines Daseins. Mancher ist
vom Glauben über den Aberglauben zum Unglauben übergegangen.
Glücklich derjenige, der sich bald wieder zurechtfindet. Mir
gelang es nach kurzer Zeit, das Grauen vor dem Nichts durch
Vertrauen auf das Beste zu bewältigen. Die menschenwürdigste
Vorstellung von der Gottheit ist jedenfalls die, Gott als den
liebevollen Vater aller Menschen zu betrachten, und derjenige
war der weiseste unter allen Menschen, der diese Ansicht
zuerst ausgesprochen hat.
Übergang
zum selbständigen Familienleben
In der Zeit
nach meiner Heimkehr von meiner weit aussehenden, aber kurz
abgeschnittenen Wanderschaft war ich im Geschäfte allmälig
gleichsam meines Vaters rechte Hand geworden. Nach den
mancherlei Schicksalen, Mühsalen und Drangsalen seines
beinahe achtzigjährigen Lebenslaufes sehnte sich derselbe
nach Ruhe und machte Anstalt, mir die Mühle zu übergeben,
wozu auch die Vorsorge beitrug, mich vor dem damals allgemein
gefürchteten Militärstande zu sichern. Die Hoffnung, seine
Sache unter meinen Händen wieder frisch gedeihen zu sehen,
war die freundliche Abendröthe seines Lebens. Die Umstände
drängten zu meiner Verheiratung, denn um mein väterliches
Erbe mit Aussicht auf ein gutes Fortkommen antreten zu
können, brauchte ich nothwendig eine Gehilfin. Sollte ich
meinen Hergang auf Freiersfü βen
offenherzig erzählen,
so würde manches Ergötzliche zu Tage kommen. Kurz und gut,
nach einigen Irrfahrten heiratete ich im Juli 1840 ein
Bauernmädchen aus Proschwitz, Karolina Möller mit Namen,
deren Vater Josef Möller unter die achtbarsten und
angesehensten Männer des Dorfes gehörte und nebst seiner
Wirtschaft einen starken Holzhandel betrieb. Die Mutter war
eine seelengute Frau und eine Tochter der Scholzin Anna Rosina
(2. Gattin und Witwe des Proschwitzer Scholzen Hans Adam
Bergmann und Gattin des späteren Scholzen Ignaz Appelt -
siehe "Gewerbe und Industrie" 1.Teil S.10).
Ich war zu
jener Zeit 23 Jahre alt. Meine Aeltern mit meinen ledigen
Geschwistern bezogen nach meiner Verheiratung das
Oberstübchen im Hause; ich aber mit meinem jungen Weibe trat
getrost und wohlgemuth die eigene Wirthschaft und das
selbständige Leben an. Es war ein guter Anfang. Sehr bald
brachte indessen die Schule des Lebens ihre herben Prüfungen
über mich, welche ganz geeignet waren, mein weiches Naturell
abzuhärten für unausbleibliche Kämpfe und Stürme.
Ende August
kam ein Hochwasser und machte mir an Wehr und Wasserleitung
beträchtlichen Schaden. Solche Wasserschäden haben sich in
den folgenden Jahren mehrmals wiederholt, und indem sie mir
die Arbeit des Sisyphus auferlegten, mein anfängliches
Fortkommen sehr erschwert. Kurz darauf kehrte die Krankheit in
unser Haus ein; drei meiner Schwestern lagen am Typhus
darnieder; endlich ergriff die Seuche auch mein Weib und sie
ward das Opfer derselben. Am 25. Januar 1841 verschied sie
nach einem Krankenlager von elf Tagen. Nicht genug, auch mein
Vater legte sich im Herbste 1840 noch aufs Krankenlager und
segnete das Zeitliche am 12. Mai 1841.
Die
Nothwendigkeit drängte auf den Ersatz meiner verlorenen
Gattin, und die Wahl wurde mir nicht schwer. Ich fand sie in
der jüngeren Schwester meiner ersten Frau, Agnes, welche mir
nach einjähriger Witwerschaft als treue ausharrende
Lebensgefährtin zur Seite trat. Die nächsten Jahre kann ich
zur ruhigsten, zufriedensten und glücklichsten Zeit meines
Lebens rechnen. Ich hatte damals für mein kleines Geschäft
einen Gehilfen und stand selber zugleich als Meister und
Arbeiter dabei. Au βerdem
beschäftigte ich mich auf dem Felde und im Walde. So pflanzte
ich Fruchtbäume, harte Hölzer und Waldbäume, säuberte mein
Feld mit Spitze und Hammer eigenhändig von Steinen und machte
ein Stück Waldgrund urbar. Ein wohlgepflegter Gemüse- und
Ziergarten, den ich in Gablonz sah, bewog mich zur Anlage
eines eigenen dergleichen Gartens am Mühlgraben, an welchem
ich groβes Wohlgefallen hatte. An schönen
Sommersonntagen wandelte ich über den Mühlberg hinauf dem
Walde zu, nahm die Richtung entweder geradeaus auf den
Kohlstatter Spitzberg hinauf, wo vom Kaisersteine ein schönes
Stück Umgegend zu überschauen ist, oder rechts in das
Maffersdorfer oder links in das Swiganer Waldrevier. Diese
Waldstrecken pflegte ich meine Parks zu nennen. Meine Frau
hatte unterdessen, nachdem sie aus der Frühmesse heimgekehrt,
die Küche, die Wirtschaft und die Kinder besorgt, und nach
dem Essen gingen wir gewöhnlich in ihr Aelternhaus und von
dort auf den Proschwitzer Kamm, welcher nicht weniger
interessante Waldpartien und Aussichten, wenn auch anderer
Art, darbietet. Montags war dann mein regelmäβiger Gang
in die Stadt.
Das
Revolutionsjahr 1848
Ein neuer
Abschnitt meines Lebens begann mit dem merkwürdigen Jahre
1848, welches mit dem Umsturze der politischen auch die
gesellschaftlichen Verhältnisse gewaltig umrührte. Auch
unser Österreich wurde ganz unerwartet in den Strudel der
Revolution hineingezogen. Nach den gro βen
Erfolgen des ersten Anlaufes dieser Revolution glaubte ich das
Heil der Welt angebrochen für immerdar, die Knechtschaft
gebrochen, Freiheit und Gerechtigkeit zum Siege gelangt. In
der Zeit ward ich aus meiner Verborgenheit einigermaβen
hervorgezogen. Halb drängte mich das Verlangen nach
Mittheilung hinaus in Gesellschaften, halb zog man mich dahin.
Bald gewahrte man mit Verwunderung, daβ ich, der
Träumer, in den Tagesfragen den besten Bescheid wuβte,
und von nun an galt bei politischen Diskussionen mein Votum
als entscheidend. Einige bildungseifrige junge Männer
standen zu mir, darunter der Lehrer Appelt, der Bäcker
Hübner aus Dörfel, mein Schwager Josef Möller, der
Werkmeister Kratzert, der später nach Texas ausgewanderte
August Wagner, der Student Gerhard Hopf. Wir bildeten eine Art
politischen Klub, welcher zeitweilig beim Dorfrichter Anton
Schäfer in Maffersdorf zusammenkam. Schäfer war eines der
eifrigsten Mitglieder dieses Klubs, ausgezeichnet durch Geist,
Kenntnisse und Energie. Bald wurde ein Statuten-Entwurf
eingeleitet und die Organisation des Maffersdorfer politischen
Lesevereins verabredet, welcher alle Donnerstage seine
Sitzungen hielt vom Mai 1848 bis zum März 1849. Es war ein
Klub eifrigster Demokraten, von denen jeder gern das Seinige
zur Weltverbesserung beigetragen hätte.
Ich hatte die
Gewohnheit, die Begebenheiten meines Lebens, wie meine
Ansichten über verschiedene Zustände und Verhältnisse in
Tagebuchblättern niederzuschreiben. So verfa βte
ich in einer Muβestunde einen kurzen Aufsatz unter der
Überschrift: "Freie Meinung eines deutschen Bewohners
von Böhmen", worin ich meinem deutschen Gefühle
gegenüber dem fanatischen Tschechenthume Ausdruck gab. Da ich
unter meinen Freunden und in unserem Vereine Zustimmung fand
und Beifall erntete, übergab ich denselben an Karl Herzig in
Reichenberg. Er wurde im Reichenberger Wochenbericht
abgedruckt. Also geschah mein erster schriftstellerischer
Versuch, und auf diese unwillkürliche Art ist meine Feder in
die Öffentlichkeit gekommen. Der Redakteur Dr. Fischer
forderte mich auf, ihm mehr dergleichen Beiträge für das
Blatt zu liefern, was ich den ganzen Sommer hindurch eifrig
that. Ich erregte einigermaβen Aufmerksamkeit und wurde
von angesehenen Personen Reichenbergs und der Umgebung
aufgesucht. Unter anderen wünschte der Industrie-König
Johann Liebig mich kennenzulernen. Als ich bei ihm vorsprach,
musterte er mich mit zweifelndem Blicke und fragte mich
zweimal, ob ich wirklich selber den betreffenden Aufsatz
geschrieben habe. Es schien ihm nach meinem anspruchslosen Äuβeren
sichtlich schwer zu werden, mir irgendeine Tüchtigkeit
zuzutrauen. Später schien er besserer Meinung über mich zu
sein, da er mir in einer Wahlversammlung zu Reichenberg nebst
anderen Honorationen mit groβer Aufmerksamkeit
begegnete...."
Ich
unterbreche hier ein wenig die Erinnerungen A. Jägers. Aus
den letzten Zeilen haben Sie gemerkt, da β
das Jahr 1848 in ihm groβe Hoffnungen geweckt hatte. Er
hatte sich der Bewegung mit ganzem Herzen verschrieben. Umso
tiefer war seine Enttäuschung, als die Ziele nicht erreicht
wurden und die Reaktion in etwa die alten Zustände wieder
herstellte. 20 Seiten nimmt dieses Thema in seiner Biographie
ein mit Ausflügen in die europäische Politik und mit ernsten
und erheiternden Begebenheiten aus Maffersdorf und Umgebung.
Ich nehme den Faden wieder auf mit einigen Sätzen vom Schluβ
des Kapitels über
die Reaktion:
"...Wer
nun durch unabwendbare Verhältnisse gezwungen war, gegen
seine Überzeugung zu reden und zu handeln, konnte durch
solche Angewöhnung leicht die ganze Wahrhaftigkeit seines
Charakters einbü βen,
und aus einem wohlwollenden, aufrichtigen und getreuen
Menschen wurde ein Heuchler. Also hat mancher Jüngling mit
den besten Anlagen den Glauben an das Gute in der Menschheit
eingebüβt und ist pessimistischer Selbstsucht
anheimgefallen.
Die
Bauzeit
In der für
das politische Leben trostlosen Zeit zog ich mich wieder mehr
auf mich selber zurück und nahm meine Zuflucht zu meinen
alten guten Freunden, zu meinen Büchern. Auch war zu
derselben Zeit mein Geschäftsleben auf einem Wendepunkte
angelangt. Schon mehrere Jahre hindurch hatte ich mich mit dem
Plane herumgetragen, die Verbesserungen im Mühlenwesen auf
meine Mühle anzuwenden. Zwei Nachbarmüller, Franz Gürtler
in Maffersdorf und Joseph Weber in Habendorf, waren mir in
dieser Sache bereits mit ihrem Beispiele vorangegangen. Mich
selber hatte nur meine Mittellosigkeit bisher daran
verhindert; da ich aber keine Aussicht hatte, die nöthigen
Mittel vor dem Baue erwerben zu können, so mu βte
ich diesen mit erborgtem Gelde unternehmen. Es war also ein
schweres Werk, als ich im Jahre 1851 einen Bau unternahm,
dessen Kosten sich am Ende über 12000 Gulden beliefen,
während ich bis dahin kaum mehr als 300 erübrigt hatte. Mit
schwerem Herzen ging ich daran. Zwei Jahre dauerte der Bau.
Diese und die nächstfolgenden waren Jahre harten, mühseligen
Ringens für mich, voll von schweren Sorgen. Meine bedenkliche
Lage wurde noch verschlimmert durch eine Augenkrankheit. Ich
muβte Hilfe im Prager allgemeinen Krankenhause suchen.
Unvergeβlich ist mir das Gefühl
unaussprechlicher Seligkeit, welches ich empfand, als ich den
ersten Spaziergang im Freien wieder mit unverbundenen Augen
machen konnte. Von dieser Augenkrankheit blieb ein Rest auf
Lebenszeit an mir haften, welches ich als meinen Theil an den
unvermeidlichen Übeln des Lebens mit Ergebung getragen habe.
Im Frühjahr
1852 nahm ich meine Bauarbeiten wieder auf. Ich sparte nichts,
um meinem Werke die grö βte
Vollendung zu geben; aber eigene Unkenntnis und schlechte
Berathung führten zu Fehlern und brachten über mich
quälende Zweifel. Viele Leute betrachteten mich bereits als
einen verlorenen Mann. Oft war ich der Verzweiflung nahe. Am
liebsten hätte ich mich verkrochen, um nie wieder zum
Vorschein zu kommen. Mein Lieblingsplan, welcher mir im Wachen
und Träumen unablässig vorschwebte, war der, nach Amerika
auszuwandern. Die trostlosen politischen Zustände und die
verlockenden Nachrichten ausgewanderter Freunde gaben mir
Sporn und Anziehung. Bei alledem handelte ich aber so, als
wäre ich unabänderlich auf Lebenszeit fest an meine Scholle
gekettet. Später hat sich mir öfters die Frage aufgedrängt:
Was würde wohl in Amerika aus mir geworden sein? Mein
mehrjähriges Bauen brachte mich endlich in den Ruf, als baue
ich lediglich zum Vergnügen. Alte Leute, die mit meinem Vater
jung gewesen waren, pflegten zu mir zu sagen: "Sie sind
gerade wie Ihr Vater war, der schien auch nicht leben zu
können, ohne zu bauen, und wenn es an seiner Sache keine
nothwendigen Baulichkeiten gab, so riβ er irgend etwas
ein und baute es anders."
Zu meiner
eigenen freudigen Überraschung hatte ich im Verlaufe von
sechs Jahren nach Beendigung des Baues alle durch denselben
gemachten Schulden auf Heller und Pfennig abgetragen.
Die
Dorfchronik
Im Jahre 1860
wurde durch H.T. Stiepel die Reichenberger Zeitung begründet,
deren erste Nummer am 16. September herauskam. Da wandelte
mich die Lust an, einmal einen Aufsatz für die Zeitung zu
schreiben. Ich nahm dieses Mal den Stoff nicht aus der
Politik, auch nicht aus dem Bereich der Volkswirthschaft,
sondern aus der Geschichte und Geographie, meinen
Lieblingswissenschaften; der Schauplatz war aber in meiner
Heimatgegend.
Die
Geschichten alter Begebenheiten, welche mein guter Vater mir
im meiner Kindheit hundertmal vorerzählt, waren meinem
Gedächtnisse lebhaft eingeprägt. Ich bildete mir ein, sie
würden auch anderen Leuten ebenso schön, ebenso wichtig und
interessant erscheinen wie mir, und indem ich sie schriftlich
nacherzählte, glaubte ich, das Gedächtni β
meines geliebten Vaters fortzupflanzen. Ich faβte also
einen Theil dieser traditionellen Geschichten in einem Aufsatz
zusammen, dem ich eine übersichtliche Beschreibung des oberen
Neiβethales voranstellte. Der Redakteur Dr. Herrmann aus
Paulsdorf zeigte sich bereitwillig zur Aufnahme desselben in
das Feuilleton der "Reichenberger Zeitung". Der Aufsatz
fand Beifall, wodurch ich aufgemuntert wurde, meine Arbeiten
in der Heimatsgeschichte fortzusetzen.
Im Jahre 1848
war ich von meinen Freunden im Maffersdorfer politischen
Leseverein schon aufgefordert worden, eine Geschichte von
Maffersdorf abzufassen; der wackere Akademiker Gerhard Hopf
war es, welcher vorzüglich auf die Erfüllung dieses
Ansinnens drang. Die Erinnerung an jene Aufforderung kam
meiner Neigung zu Hilfe, und ich fa βte
nun den Entschluβ, alle mir bekannten oder zugänglichen
aufgeschriebenen und traditionellen Begebenheiten aus dem
Heimatsorte und dessen Umgebung in einem Werkchen
zusammenzustellen, welches ich an meine Freunde vertheilen
wollte. Zu diesem Behuf durchsuchte ich die alten Urkunden und
Schöppenbücher, die Memorabilienbücher der Pfarreien und
Schulen. Vieles suchte ich durch Nachfragen bei den ältesten
Leuten der Gegend zu ergänzen. Endlich nahm ich die
gedruckten Geschichtsbücher zur Hand, welche die
Lokalgeschichte hiesiger Gegend im allgemeinen oder speziell
behandeln. Es sind aber nur wenige. Während dieser Zeit
änderte ich meinen Plan, denn der Stoff schwoll mir unter den
Händen dergestalt an, daβ die Sache in meinen Augen an
Bedeutung sehr gewann. Ich beschloβ also, mein Werk in
Druck zu legen und als Dorfchronik für ein gröβeres
Publikum herauszugeben. So wurde ich zum ungelehrten
Geschichtsschreiber meiner Heimat.
Mittlerweile
hatte ich meine Bekanntschaft bei der Redaktion der
"Reichenberger Zeitung" fortgesetzt und alldort
mehrmals von meinem geschichtlichen Versuche gesprochen. Ich
verabredete mit Dr. Herrmann, welcher einige Jahre vorher die
"Geschichte Reichenbergs" in Bearbeitung genommen,
einige Proben meiner Schrift in der "Reichenberger
Zeitung" zu veröffentlichen, welche von der Redaktion
empfehlend beurtheilt und vom Publikum nicht ungünstig
aufgenommen wurden. Dies und das aufmunternde Urtheil
Sachverständiger lie βen
mich hoffen, leicht einen Verleger für
meine Dorfchronik zu finden.
In dieser Zeit
geschah es, da β
in Prag der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen
entstand, welcher die Veröffentlichung von Stadt- und
Dorfchroniken unter seine Aufgaben setzte. Dieser Verein kam
mir gerade zurecht, und ich schickte ungesäumt das zu zwei
Drittheilen fertige Manuskript an den damaligen Präsidenten
Professor Höfler zur Prüfung ein. Nach einigen Wochen
brachte die Post mein theures Kleinod zurück. Mit Hast
erbrach ich das Paket; nachdem ich aber die darin befindliche
Zuschrift Dr. Höflers gelesen hatte, stand ich da wie mit
kaltem Wasser übergossen; sie schien mir nämlich höflich
abweisend zu sein. Ich sollte die "interessante
Arbeit" nur vollenden und alsdann wieder an den Verein
einschicken. Mittlerweile hatte ich von Pater Anton Hoffmann
in Reichenberg eine Rohn'sche Chronik der Herrschaften
Friedland und Reichenberg geliehen bekommen. Auch auf andere
Quellenschriften wurde ich erst jetzt aufmerksam und kam
hiedurch zu der Einsicht, daβ ich meine Arbeit nicht
gründlich angefangen hatte. Was war zu thun? Das ganze
vorhandene Manuskript wurde nun als bloβe Vorarbeit
betrachtet und benützt und die Arbeit von vorn wieder
angefangen. Der Eifer, der Fleiβ und die Ausdauer waren
in der That gröβer als ich sie früher mir selber für
irgendeine Leistung zugetraut hätte. Tagsüber benützte ich
jede Viertelstunde freie Zeit dazu. Da ich aber bei Tage das
Wenigste ausrichten konnte, so muβten die Nachtstunden
dazu benützt werden. Da saβ ich besonders zur
Winterszeit manche liebe lange halbe Nacht darüber. Sogar
meine liebste Unterhaltung, die Lektüre, wurde in dieser Zeit
zur Seite gesetzt, und das will gewiβ viel sagen. Dabei
hatte ich viele Gänge zu machen, um Erkundigungen
einzuziehen, und diese Gänge dienten mir gewissermaβen
zur Erholung.
Nachdem ich
bei einigen Unterbrechungen durch Baulichkeiten und andere
nothwendige Geschäfte bis in das fünfte Jahr also an meinem
Werke gearbeitet hatte, war dasselbe der Vollendung nahe
gerückt, und ich hielt es für Zeit, dem deutschen
Geschichtsvereine in Prag hievon die Anzeige zu machen. In
einem Briefe an Professor Höfler stellte ich meine Arbeit
neuerdings dem Vereine zur Verfügung, erhielt aber keine
Antwort. Wie mir später mitgetheilt ward, hatte Höfler die
Sache liegen lassen. Aufdringlichkeit war gegen meine Natur,
ich verschmähte einen weiteren Versuch; es blieb mir also
nichts übrig, als den Selbstverlag meines Buches
vorzubereiten.
Auf einen
pekuniären Gewinn für mich war es nicht abgesehen; ich
bestimmte den Reinertrag für einen wohlthätigen Zweck, und
die Hoffnung, für einen solchen durch diese meine
Lieblingsarbeit einen namhaften Betrag zu erwerben, war mir
ein starker Ansporn. Ich vertheilte Subskriptionslisten an
einige Freunde, welche erbötig waren, in ihrer Bekanntschaft
dafür zu werben. Aber mit Beihilfe aller guten Freunde
brachte ich die Zahl aller Subskribenten kaum auf 250. In
Reichenberg war die Betheiligung sehr gering; mochten sie doch
ihre eigene Stadtgeschichte nicht kaufen. Gro βe
Hoffnungen hatte ich auf den dortigen industriellen
Bildungsverein gesetzt. Sie nahmen aber ihre Feder und
schrieben nur 10; in ganz Reichenberg wurden nur 20
gezeichnet, wovon später einige ihre Unterschriften
ableugneten, andere die ihnen zugesendeten Lieferungen groβmüthig
annahmen, ohne sie zu bezahlen. Dem armen kleinen Neuwald
konnte man nicht verargen, daβ unter den sämtlichen 140
Bewohnern kein einziger Subskribent aufzutreiben war. In
Proschwitz fanden sich deren sehr wenig. Die meisten
Unterschriften gab Maffersdorf und hier wieder der
Arbeiterstand. Unter den Nachbarortschaften entsprachen
Reichenau und Gablonz am besten meinen Erwartungen. Dieser
schlechte Erfolg meiner Subskription stimmte meine Erwartung
wohl ein wenig herab, ohne mich jedoch zu entmutigen. Die
Leute sollten nur erst sehen, dann würden sie schon
zugreifen. Um mich aber vor unangenehmen Enttäuschungen
möglichst sicher zu stellen, beschloβ ich, nur 500
Exemplare drucken zu lassen.
Beim
Erscheinen der ersten Lieferung war ich gerade krank und mu βte
längere Zeit das Bett hüten und lauerte also in der Stille
auf den Erfolg meines in die Welt gesendeten Werkes. Still und
ohne alles Aufsehen ward es auch aufgenommen; kein erwarteter
Beifall wurde laut, so gespannt ich auch immer darauf horchen
mochte. Die meisten Abonnenten nahmen ihre Hefte mit
Gleichgültigkeit in Empfang, die wenigsten machten sich die
Mühe, sie zu lesen. Ein Theil derselben dünkte sich dafür
zu gescheit, ein anderer Theil war faktisch zu dumm. Es gab
genug Leute, die es zur Noth als Geschenk allenfalls
angenommen hätten, um es gleichgültig in einen Winkel zu
werfen. Doch blieb die erwartete Anerkennung für meine Arbeit
keineswegs aus, sie kam zu meiner Befriedugung von sehr
kompetenter Seite, vom Verein für Geschichte der Deutschen in
Böhmen. Verschiedene Abtheilungen der Chronik wurden in den
Vereinsmittheilungen und anderen Zeitschriften
veröffentlicht. Aber auch in hiesigen Kreisen entbehrte die
Dorfchronik nicht allen Beifalls. Da begegnet mir z.B. ein
Mann auf der Gasse und drückt mir freundlich die Hand mit den
Worten: "Ihnen muβ man gut sein, Herr Jäger,
schon allein wegen Ihrer schönen Dorfchronik; es ist nur zu
verwundern, wie Sie alle die erzählten Begebenheiten so
wissen konnten." Ein anderer, sehr gebildeter Herr, der
mich sonst gar nicht beachtet, hielt im Begegnen bei mir an
mit den Worten: "Sie haben mir diese Tage mit Ihrer
Dorfchronik eine rechte Freude gemacht; so viel ich
Ortsgeschichten gelesen habe, hat mir doch keine so gefallen
wie die Ihre."
Bei dieser
Sache habe ich auch die Erfahrung gemacht, da β
das Brot des Schriftstellers meistens ein sehr bitteres ist.
Vorher hatte ich mir zuweilen eingebildet, an mir sei ein
Schriftsteller verdorben; diesen Fall hörte ich von nun an
auf zu bedauern. Viel lieber wurde mir der Boden eines
bescheidenen Handwerkes, wenn er auch nicht alleweil ein
goldener Boden ist. Wenn ich selber mein jetziges Urtheil
über die Dorfchronik aussprechen soll, so muβ ich
gestehen, daβ ich meine anfänglich so groβen
Erwartungen nicht gerechtfertigt finde. Wer will es dem
Landmanne, dem Arbeiter, dem Industriellen eingenommen von
vielerlei Mühen und Sorgen verargen, wenn er für die
Vorgänge in seinem Geburtsorte aus früheren Zeitperioden
kein groβes Interesse zeigt? Wie viel weniger aber kann
man ein solches von einem Fremden verlangen?
Dennoch aber dürfte mein Werkchen in seiner Art eine
beachtenswerthe Erscheinung im Fache der
Lokalgeschichtsschreibung bleiben."
Einsam
hab' ich, was ich schrieb, geschrieben
Für mich selbst und wen'ge, die mich lieben.
Jäger
endet seine Lebensbeschreibung mit einem Schlu βwort,
in dem es heiβt:
"Ich
fühle noch manches in mir: Gedanken, Ideen, Ansichten,
Meinungen, Erinnerungen, die ich nicht gerne mit mir in das
Grab nehmen möchte, die ich für werth halte, daβ sie
fortleben. Sie zu Papier zu bringen, ist ein für meinen
Lebensabend bestimmtes Geschäft; wer weiβ, ob das Leben
mir die Muβe dazu gewähren
wird?"
Jedoch
schon am 19.11.1872 ist er 55jährig in Maffersdorf gestorben,
7 Jahre nach Fertigstellung seiner Chronik und 4 Jahre nach
der Niederschrift "Meine Bildungsgeschichte". Diese
wurde 2 Jahre nach seinem Tode als Separatausgabe aus den
Mittheilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in
Böhmen gedruckt. Der Herausgeber, Dr. Ludwig Schlesinger,
meint in der Fuβnote
zur Einleitung u.a.: "Jäger war eine durchaus
ungewöhnliche Erscheinung. Aus dem Volke hervorgegangen und
mitten in demselben stehend, dessen Leben und Streben mit
hingebender Liebe betrachtend, und gewohnt, in allem die
Wechselbeziehungen zwischen Ursache und Wirkung zu erforschen,
drängte es ihn, die Verhältnisse der Gegenwart durch
Aufhellung der Vergangenheit zu beleuchten. Sein noch
ungedruckter Nachlaβ birgt noch manch Köstliches.
Die Perle unter Jägers Schriften dürfte wohl aber seine
"Bildungsgeschichte" sein, durch deren
Veröffentlichung wir das Andenken dieses seltenen, edlen
Mannes am meisten zu ehren glauben."
Ich muβte
die 84 Seiten von Jägers Bildungsgeschichte stark kürzen,
hoffe aber, daβ ich Ihnen den Menschen Anton Jäger
trotzdem lebendig werden lassen konnte, weil ich seine eigene
Sprache benützte, auch mit der altertümlichen Schreibweise.
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